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Herzschlagzeilen

Herzschlagzeilen

Titel: Herzschlagzeilen
Autoren: Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG
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abgeschlossen?!«
    Ich fahre zusammen.
    Fast hätte die Schere mich verletzt.
    Meine Mutter rüttelt an der Türklinke.
    »Bist du fertig? Wir müssen los.«
    Ich blicke in den Spiegel und sehe Augen, eine Nase, einen Mund. Die Haare stehen kurz und zerzaust in alle Richtungen.
    Ich sehe das Gesicht meiner Schwester.
    Langsam schüttele ich den Kopf. Ich will nicht. Ich will das alles nicht mehr.
    »Anna?«
    Ich erwache aus meiner Starre. Bücke mich, schiebe hektisch die Haarbüschel zusammen, sammele sie auf und stopfe sie in den Papierkorb.
    »Ja doch, ich komm gleich! Zwei Minuten! Ich bin sofort fertig!«
    Ich bürste mir noch mal durch die Haare, schnappe die Bluse, die auf dem Kleiderbügel am Schrank hängt, und schlüpfe hinein. Ein letzter Blick in den Spiegel und der Versuch eines Lächelns. Dann öffne ich die Tür.
    »Anna, was soll denn der Unsinn? Warum schließt du …«
    Meine Mutter verstummt, starrt mich an. Dann presst sie eine Hand auf den Mund, erstickt einen Schrei. Ich versuche, ihrem Blick standzuhalten und mich an ihr vorbeizuschieben.
    »Wo sind die anderen?«, frage ich, nur um irgendetwas zu sagen.
    »Warum hast du das getan?«
    »Mir war zu warm mit den langen Haaren.« Ich bemühe mich, gleichgültig zu klingen, und weiß, dass es mir nicht gelingt.
    »Zu warm?«
    Ich ignoriere den Schmerz in ihrer Stimme, laufe durch den Flur. Mein Vater kommt aus dem Bad, der Duft seines Rasierwassers schlägt mir entgegen. Fast wäre ich in ihn hineingerannt.
    Als Kind habe ich es geliebt, mich in seine Arme zu schmiegen, meinen Kopf in seine Halsbeuge zu drücken und an seinem frisch rasierten Kinn zu schnuppern. Aber ich bin kein Kind mehr. Vor allem bin ich nicht mehr sein Kind. Etwas hat sich verändert.
    Alles hat sich verändert, seit Ruth tot ist, höhnt die Stimme in mir.
    »Hallo, Papa«, flüstere ich.
    Er sieht mich an, runzelt die Stirn, sieht weg.
    »Wir müssen los«, sagt er nur und dreht sich zur Tür.
    Sein schwarzer Anzug ist die Mauer, die ihn umgibt.
    Ich atme aus.
    Was hast du erwartet? Hast du wirklich geglaubt, ein paar Haare mehr oder weniger könnten etwas ändern?
    Ich trete hinter meinen Eltern aus dem Haus und schließe geblendet die Augen. Strahlender Sonnenschein empfängt mich. Natürlich. Auch vor einem Jahr schien die Sonne. Ich weiß noch, wie sehr mich das irritiert hat. Sollte es auf Beerdigungen nicht immer regnen?
    Meine Schwester begruben wir am heißesten Tag, den der Sommer im letzten Jahr zu bieten hatte. Es war, als ob die Sonne sich über mich lustig machen wollte. Über das Frieren, das mich in der Nacht gepackt hatte, als ich von Ruths Tod erfuhr, und das mich seitdem nie wieder losgelassen hat.
    Wenn dir kalt ist, liegt es nicht an mir, lacht die Sonne vom Himmel. Sondern nur an dir.
    Alles liegt an dir.
    Leon kommt durch den Vorgarten auf mich zu. Er sieht gut aus. Seine blonden Haare trägt er kurz, sein Gesicht ist gebräunt von der Sonne. Ich wünschte, er wäre aus einem anderen Grund gekommen. Ich wünschte, wir könnten jetzt einfach auf seinen Roller steigen und irgendwohin fahren, wo wir allein sind. Ich sehe ihm an, dass auch er keine Lust auf Friedhof hat. In seiner rechten Hand hält er drei langstielige rote Rosen. Mir fällt ein, dass ich keine Blumen für meine Schwester habe. Ich habe gar nichts für sie. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass ich ihr etwas mitbringen könnte.
    Leon bleibt vor mir stehen, hebt langsam die freie Hand und streicht mir mit den Fingern durchs Haar.
    »Du siehst wunderschön aus«, flüstert er. Ich halte die Luft an und bemerke sein Zögern, bevor er sich zu mir beugt und seine Lippen zart meine Wange berühren.
    »Du wirst ihr von Tag zu Tag ähnlicher«, flüstert er mir ins Ohr.
    Ich zucke zurück. Der Zauber des Augenblicks ist verschwunden. Warum sagt er so was?
    Weil du es genau darauf anlegst. Ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu schreien. So ist es nicht. So ist es überhaupt nicht. Und plötzlich weiß ich, dass ich es nicht schaffe.
    »Wir müssen los.« Leon greift nach meiner Hand.
    »Ich … ich kann nicht.«
    »Anna, komm, deine Eltern warten.«
    »Ich will nicht!« Ich schiebe seine Hand weg. »Bitte. Ich will nicht mitkommen!«
    »Anna, ich will auch nicht zum Friedhof. Aber wir müssen doch. Ich meine, ich muss … ach verdammt, Anna. Tu es für Ruth.«
    Leon greift wieder nach meiner Hand und zieht an mir wie an einem störrischen Kleinkind.
    »Anna?!« Meine Mutter kommt auf
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