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Herzensjunge

Titel: Herzensjunge
Autoren: Carmen Korn
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einen Hand hält sie einen Kajalstift und nur ihr eines Auge ist geschminkt. Es ist ziemlich klar, dass sie mit Andreas ganz und gar nicht gerechnet hat, doch sie begrüßt uns beide sehr herzlich.Was hat Jan über die Trennung von Lena und Andreas gesagt? Sie sind wohl wirklich gute Freunde geblieben.
    »Ist dein Vater schon da?«, fragt mein großer Bruder.
    »Er läuft sicher bald ein«, sagt sie. »Kommt rein.«

    Lena führt uns in die Küche, die kleiner ist als unsere. Dennoch ist der Tisch aus Kiefernholz in der Küche immer der Treffpunkt für Familie und Gäste.
    »Setzt euch, und sagt, was los ist«, sagt Lena.
    »Es geht um Jan und seinen Vater«, sage ich. »Sie sind verschollen.«
    Lena zieht fragend die Augenbrauen hoch.
    »Na ja«, sagt Andreas, »vielleicht nicht verschollen, aber sie hätten gestern Abend aus Husum zurückkommen sollen. Jan hat heute in der Schule gefehlt und eine Orchesterprobe versäumt.«
    »Ich komme um vor Sorge«, sage ich.
    Lena lächelt. Teilt sie diese Sorge nicht oder hält sie mich für ein hysterisches Küken?
    »Das kann ich verstehen«, sagt eine Stimme aus dem Hintergrund. Lenas Vater, dessen Kommen wir gar nicht gehört haben.
    Alle drei drehen wir uns zu ihm um. Er steht in Hut und Mantel da und hat einen Packen Hefte unter den Arm geklemmt. Die Bastelzeitschrift, für die er arbeitet. Er scheint sie so großzügig zu verteilen wie Mama ihre Kitschgeschichten.
    »Sie sind erst seit gestern Abend überfällig«, sagt Lena. »Die beiden sind doch keine kleinen Kinder.«
    Lenas Vater legt den Packen Hefte ab und zieht seinen Mantel aus. Er verschwindet im Flur. Wir hören ihn sagen, dass er Jens im Augenblick alles zutraue. Ich springe von meinem Stuhl auf.
    Mein großer Bruder macht eine beruhigende Geste. Ich will gar nicht beruhigt werden. Doch ich setze mich wieder.

    »Jens ist noch immer in einem Ausnahmezustand«, sagt Lenas Vater, »seit Telses Tod. Ich kenne ihn so gar nicht. Jens hat immer alles angepackt.«
    Er setzt sich an den Tisch und legt seine Hand auf meine.
    »Du liebst den Jan«, sagt er und lächelt. Nicht so, wie es Erwachsene gern tun in der ganzen Erhabenheit ihrer Lebenserfahrung. Das Lachen von Lenas Vater ist fast ein bisschen wehmütig. Es erinnert mich an das von Oma.
    »Jens Torge hat gestern und vorgestern vor Gericht gestanden«, sage ich.
    Lenas Vater nickt. Ganz offensichtlich weiß er davon. Dann kennt er auch den Vorwurf, dem Jans Vater sich ausgesetzt sieht.
    »Jan hat gestern aussagen müssen«, sage ich, »er hat sich danach bei mir melden wollen. Es war schon einmal so, dass Jan einen Tag später aus Husum kam, weil sein Vater das Haus dort nicht verlassen wollte.«
    »Was können wir tun, Steffen?«, fragt mein Bruder.
    »Es gibt ein Zimmer in dem Husumer Haus, das sieht aus, als käme Telse jeden Augenblick zur Tür herein«, sagt Lenas Vater. »In diesem Zimmer hat Jens Tag für Tag gesessen, bis zu dem Umzug im Oktober.Wir haben ihn förmlich aus dem Zimmer herausziehen müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass er gerade wieder da sitzt.«
    »Und Jan?«, frage ich.
    »Er quält den Jungen mit den Erinnerungen. Jan hat seine eigenen.«
    »Könnte er Jan was antun?«, frage ich leise.
    Steffen sieht mich erstaunt an. »Nie und nimmer«, sagt er.

    Ich atme hörbar aus.
    »Um deine Frage zu beantworten«, sagt er zu meinem Bruder, »ich schlage vor, wir fahren jetzt gleich nach Husum und sehen, dass wir in das Haus kommen.«
    »Jetzt?«, fragt Lena. »Wer ist wir?«
    »Jetzt«, sagt Steffen. »Es wäre schön, wenn Andreas mitkäme. Schließlich ist er Jans Freund.«
    »Ich bin Jans Freundin«, sage ich. »Ich komme auch mit.«
    Lenas Vater und mein Bruder schütteln gleichzeitig die Köpfe.
    »Es wird schon schwierig genug, Mama und Papa zu erklären, dass ich am Nikolausabend nicht da bin«, sagt Andreas. »Wenn du auch noch fehlst, ticken sie völlig aus.«
    Ach ja. Nikolaus. Ich hatte Jan einen Stiefel hinstellen wollen.
    »Es ist wirklich besser, wenn du hierbleibst, Antonia«, sagt Lenas Vater, »ich verspreche dir, wir melden uns, sobald wir etwas in Erfahrung gebracht haben.«
    Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen kommen. Nur nicht heulen.
    »Soll ich mit deinen Eltern sprechen?«, fragt Steffen meinen Bruder.
    »Das mache ich schon«, sagt Andreas und geht hinaus in den Flur, wo ein Telefon mit Schnur auf einem Tischchen steht.
    Mein Bruder telefoniert leise. Wir können ihn von der Küche aus nicht verstehen.
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