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Herzensjunge

Titel: Herzensjunge
Autoren: Carmen Korn
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entgegen. Das lange, schmale Gesicht. Dieser Ausdruck darin.
    Ich kriege Herzklopfen. Das kann doch nicht wahr sein - ich hab diesen Jungen nur mal kurz gesehen. Hab ich ihm überhaupt ins Gesicht geguckt? Es war doch nur ein Augenblick durch das Fensterglas. Bin ich denn so bedürftig?
    All meine Gedanken laufen immer wieder in dieselbe Richtung. Ich brauche eine Liebe. Eine größere als die
von Hanna und Kalli. Eine, die noch was anderes bedeutet als Geknutsche. Schick mir jemanden, lieber Gott. Schnell.

6
    Mama und Papa legen großen Wert darauf, dass wir alle einmal am Tag zusammen am Tisch sitzen und essen. Alle fünf. »Eine Mahlzeit teilen«, sagt Papa.
    Das ist gar nicht einfach, weil wir zu den unterschiedlichsten Zeiten nach Hause kommen.Adrian ist in der Vorschule und ist schon kurz nach eins da. Ich komme oft erst gegen vier. Bei Andreas ist ohnehin alles ganz anders, seit er in der Oberstufe ist und obendrein noch mit Lena geht.
    Papa ist Lehrer an der Grundschule, in die Andreas und ich gingen, ehe wir aufs Gymnasium kamen. Er hat oft schon am späten Mittag aus und dann bringt er Adrian mit. Mama ist manchmal in der Redaktion, doch meistens arbeitet sie zu Hause an ihrem Schreibtisch. Eigentlich klappt das mit der gemeinsamen Mahlzeit nur am Abend ganz gut.
    Heute Abend sind alle da. Auch Andreas. Ich hab ihn seit gestern Nachmittag kaum mehr gesprochen. Seit er aus dem Balzac gegangen ist und den Jungen mit der Mütze getroffen hat. Soll ich ihn so über Kartoffeln mit Quark weg fragen, wer das war? Vielleicht mit Schnittlauch zwischen den Zähnen?

    Ich versinke in Gedanken. So sehr, dass ich zu der Tube Mayonnaise greife, die neben dem Teller meines kleinen Bruders liegt. Anders kriegt er seine Kartoffeln nicht gegessen. Ich eigentlich auch nicht.
    »Wer war denn der Junge, mit dem ich dich gestern Nachmittag in der Gertigstraße gesehen habe?«, fragt Mama. »Der mit der Mütze. So kalt ist es doch noch gar nicht.«
    Träume ich? Oder spreche ich schon durch Mama? Als sei ich besessen.
    »Das ist Jan«, sagt mein großer Bruder.
    »Und wer ist Jan?«, fragt Mama.
    Ich liebe es, dass sie so beharrlich ist. In diesem Moment liebe ich es.
    »Kennst du ihn aus der Schule?«, schaltet Papa sich ein.
    Keine Zwischenfragen, bitte. Ich weiß, dass Andreas diesen Jan nicht aus der Schule kennt. Dann hätte ich ihn schon auf dem Schulhof gesehen.
    »Er ist neu in Hamburg«, sagt mein großer Bruder, »gerade erst mit seinem Vater hergezogen.«
    »Und woher kennst du ihn?«, beharrt Mama.
    »Aus Lenas Küche«, sagt Andreas.
    Das hört sich gar nicht gut an. Das ist mir zu intim. Lenas Küche. Die soll bloß ihre Finger von Jan lassen.
    »Ist er ein Freund von Lena?«, fragt Papa und klingt hoffnungsvoll.
    »Was sollen diese inquisitorischen Fragen?«, sagt mein großer Bruder. Ich verstehe ihn, doch ich hoffe auf Antworten.
    »Ihr sollt Andreas in Ruhe lassen«, sagt Adrian, der die
Gelegenheit genutzt hat, die halbe Tube Mayonnaise auf eine Kartoffel zu drücken. Zurück in die Tube kriegt er sie nicht mehr, egal wie Mama guckt.
    »Jans Vater und der von Lena sind Studienfreunde«, sagt Andreas. Er lenkt doch immer ein. Kommt ganz nach Mama. »Der Vater von Lena hat wohl angeregt, dass sie nach Hamburg ziehen.«
    »Und Jans Mutter?«, fragt Mama.
    »Die ist tot«, sagt Andreas.
    Wir zucken alle zusammen.Von Schicksalsschlägen ist unsere Familie ziemlich verschont geblieben. Das Schlimmste, was geschehen ist, war Omas Scheidung von Opa, und die ist schon endlos lange her, und Opa lebt vergnügt in Italien und erntet Oliven und fühlt sich längst, als sei er in der Toskana geboren, und Oma geht es auch bestens.
    »Der arme Junge«, sagt Mama, »ist das schon lange her?«
    Mein großer Bruder hebt die Schultern und widmet sich ganz dem Pellen einer Kartoffel. »Weiß nicht«, sagt er schließlich, »ich habe ihn gerade erst kennengelernt, und nicht alle in dieser Familie haben die schlechte Angewohnheit, Leuten Löcher in den Bauch zu fragen.«
    »Warum geht er nicht auf unsere Schule?«, frage ich.
    Andreas guckt mich nachdenklich an. Als ob er ahne, dass seiner lieben Schwester ein kurzer Blick auf Jan genügt hat, um sich zu verknallen. Das ist es doch wohl. Ich habe mich verknallt. Oder warum sitze ich hier und fühle mich, als hätte ich gerade eine Grippe überstanden, und bohre und will das komplette Leben von Jan kennen?

    »Ist ihm nicht musisch genug. Er geht aufs Albert-Schweitzer.«
    »Spielt
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