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Herzensjunge

Titel: Herzensjunge
Autoren: Carmen Korn
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er da im Schulorchester?«, fragt Papa.
    »Wird er wohl demnächst tun. Er will Pianist werden.«
    Ich werde verrückt. Ein Junge, der Klavier spielen kann. Nicht nur so aus dem Album für Anfänger. Ich träume von Klavier spielenden Männern.
    »Bring ihn doch mal mit«, sagt Mama.
    O ja. Bitte. Bring ihn mit. Ich versuche, ganz gelassen zu wirken, und starre auf meinen Teller, als gäbe es da was anderes zu sehen als eine Gabel, die in einer zerdrückten Kartoffel liegt.
    Will ich nur ganz dringend eine Liebe oder hat mir Jan wirklich das Herz verdreht? In dem Augenblick, als er aus dem Bus stieg, um dann mit meinem Bruder davonzugehen. Liebe auf den ersten Blick. Und das mir. Wenn ich ihn doch noch mal ganz aus der Nähe betrachten dürfte. Um meine Gefühle zu prüfen und zu wissen, ob es ernst ist.
    »Ich hab dich gar nicht gesehen«, sagt Andreas zu Mama, »wo warst du denn da in der Gertig?«
    »Da gibt es doch genügend zu erledigen«, sagt Mama.
    Bilde ich mir das ein oder wird Mama verlegen? Dabei ist doch gar nichts dabei, ein bisschen shoppen zu gehen.

7
    Es ist stockdunkle Nacht, als ich aufwache. Längst noch kein Morgen. Ich schlafe eigentlich wie ein Murmeltier. Das sagt Papa immer, wenn es ihm dann doch noch gelungen ist, mich zu wecken. Keine Ahnung, wie gut Papa sich mit Murmeltieren auskennt, doch als Grundschullehrer muss er eigentlich über alles Bescheid wissen.
    Irgendein Gedanke hat sich in meinen Schlaf geschlichen. Einer, der mir nicht angenehm war und mich geweckt hat. Ich liege da und lausche in mich hinein und da kommt es mir in den Sinn. Was ist denn, wenn ich meine Gefühle geprüft habe und weiß, dass ich Jan liebe, und er liebt mich nicht? »Halte mir bloß deine kleine Schwester vom Hals«, könnte er zu Andreas sagen und sich ausschütten vor Lachen. Das wäre schrecklich. Einfach mein Tod.
    Da gibt es doch ein Lied, das Oma manchmal singt. »Daneben geschossen, tödlich getroffen«, heißt eine Zeile darin. Geht auch um eine Liebe, die nicht erwidert wird. Gott o Gott.
    Im Schlafzimmer klingelt der Wecker. Kann nicht später als halb sechs sein.Wer will denn jetzt schon aufstehen? Papa wird doch keinen Wandertag in der Schule haben. Nicht im Oktober.
    Durch die geriffelten Glasscheiben meiner Zimmertür fällt schwaches Licht. Kann nur vom Badezimmer kommen, das genau gegenüberliegt. Die Neugier siegt. Ich schlage die Decke zurück und stehe auf. Tapse hinüber und öffne die Tür. Mama steht vor dem Spiegel und schaut ihrem Gähnen zu.

    »Toni«, sagt sie, »du bist schon auf?« Das Gleiche könnte ich sie fragen.
    »Ist was nicht in Ordnung?«, frage ich stattdessen.
    »Ich muss nach Lübeck«, sagt Mama.
    »Zu Fuß?«
    »Wie kommst du darauf?«, fragt Mama. Sie hält ihr Haar hinten im Nacken zusammen und schiebt es hoch und klemmt eine Klammer rein. Sieht jünger aus. Das braucht sie am Morgen. Hebt ihre Stimmung. Auch wenn sie die Haare dann wieder fallen lässt und glatt bürstet.
    Von Hamburg sind es sechzig Kilometer nach Lübeck. Dafür muss man nicht mit den Hühnern aufstehen. »Weil es so früh ist«, sage ich.
    »Ach so«, sagt Mama. »Ich treffe mich mit einer Frau, die heute noch nach London fliegt, um nach ihrem verschollenen Mann zu suchen.«
    »In London verschollen?«
    »Auf dem Ärmelkanal«, sagt Mama, »in einem Kanu.«
    Wer kommt auf die Idee, in einem Kanu nach England zu paddeln? Doch das sind die Geschichten, die Mama schreibt. Menschliche Dramen, die einen Kern Wahrheit haben, den sie dann möglichst dramatisch ausschmückt.
    »Davon hast du gestern Abend gar nichts erzählt«, sage ich.
    »Hab ich das nicht?«, sagt Mama.
    Das ist typisch für Mama. Immer tut sie, als habe sie alles erzählt und wir hätten es nur vergessen oder gar nicht erst zugehört. Gestern Abend ist sie auch nicht damit rausgerückt, wohin sie unterwegs war, als sie Andreas
und Jan gesehen hat. Sie hätte doch sagen können, sie habe sich bei Magic Ohrringe angeguckt. Oder bei Herz und Krone die neuen Gürtel. Das hätte ich jedenfalls getan. Gibt viele schicke Sachen in der Gertig. Lebensmittel kauft Mama ganz woanders. Nein. Statt einfache Antworten auf einfache Fragen zu geben, hüllt meine Mutter sich lieber in Schweigen. Manchmal glaube ich, Mama wäre gerne eine Frau mit Geheimnissen.
    »Du liegst doch sonst um diese Zeit noch im Bett wie ein Sandsack«, sagt Mama. Sandsack. Da ziehe ich das Murmeltier doch vor.
    »Hab schlecht geschlafen«, sage ich.
    »Dieser Jan ist
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