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Herzensjunge

Titel: Herzensjunge
Autoren: Carmen Korn
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sei nichts gewesen, und fange schon an zu bereuen, dass ich nicht gleich aufgesprungen und Hanna nachgegangen bin. So ein Zeichen von Solidarität wäre wirklich gut gewesen. Gerade jetzt, wo unsere Freundschaft doch leicht angeknackst ist.
    »In Schönschrift schreiben lässt sich das Leben leider nicht«, sagt Oma oft. Sie ist wirklich ein Füllhorn an Weisheiten. Ich sollte sie um Rat fragen, was mein Liebesleben angeht. Mein künftiges Liebesleben.
    Ich habe wirklich jetzt keinen Sinn für den Andreasgraben, von dem die Hettich da vorne labert. Wieso heißt überhaupt ein Graben Andreas, so heißt mein Bruder. Pazifische Platte. Nordamerikanische Platte.
Okay. Zwei Erdplatten sind zusammengestoßen. »Darum die stete Gefahr von Erdbeben in Kalifornien«, sagt die Hettich und hält ihren Zeigefinger hoch. Das tut sie gerne. Zeigefinger hochhalten.
    Da kommt mir ein Film in den Sinn, da gab es ein Erdbeben in San Francisco, und zwei Liebende sind sich am Schluss in die Arme gefallen, die sich vorher nicht trauten.Vielleicht brauche ich ein Erdbeben.
    Ob Hanna vor der Tür wartet? Oder ist sie nach Hause gegangen? Ich beuge mich vor und lasse die Haare ein bisschen vorm Gesicht hängen, um einen Hauch Privatsphäre zu haben und vor mich hin zu denken und mich nicht länger vom Andreasgraben stören zu lassen. Da steht die Hettich schon neben mir. »Lange Haare, kurzer Sinn«, sagt sie, »oder ist gar nichts drin in deinem Hirn?«
    Ich gähne. Es kommt einfach so über mich. Jedenfalls soll es keine Demonstration in Sachen langweiliger Unterricht sein. Die Hettich sieht das anders. »Hinaus«, sagt sie, »das gibt einen Eintrag ins Klassenbuch.«
    Eigentlich bin ich dankbar, dass ich doch noch Gelegenheit bekommen habe, solidarisch zu sein. Ich gehe aus der Tür und gucke mich um. Keine Hanna auf dem Flur. Leere im Treppenhaus. Leere in der Halle am Haupteingang. Nicht einmal die Leute aus der Oberstufe hängen draußen herum. Vielleicht hat es eine Evakuierung gegeben und nur die 8b und die Hettich wissen von nichts.
    Vor der großen Doppeltür bleibe ich stehen und gucke durch die Glasscheiben. Dahinter ist das Leben, von dem wir ferngehalten werden. Die Straße ist voller
Leute und Autos. Ist das Jan da drüben auf der anderen Straßenseite? Ich vergesse einen Augenblick lang zu atmen. Soll das mein Schicksal sein, ihn durch Glas zu sehen oder am Ende der Straße? Ich will die Tür öffnen. Mich in den Verkehr werfen. Jans Weg kreuzen. Doch ich stehe da, als sei ich Frau Lot und zur Salzsäule erstarrt.
    Er geht zur Bushaltestelle.Warum trägt er einen Geigenkasten? Ich denke, er spielt Klavier. Diese schwarze Mütze hat er auch schon wieder auf.Was soll das? Er hat doch keine Glatze zu verbergen. Ganz im Gegenteil. Die Locken fallen ihm ja auf die Schultern. Er ist noch größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, und schmaler. Von der Größe her passen wir bestens zusammen. Doch er wird denken, dass ich ein Küken bin. Die Frau, die er liebt, sollte wenigstens fünfzehn sein oder zumindest vierzehn.
    »Vierzehn« werde ich sagen, wenn er mich fragt. Was sind denn schon drei Monate? Hoffentlich kommen mir meine Brüder nicht dazwischen und krähen mein wahres Alter raus.Wird er mich überhaupt je fragen?
    Dieser dämliche Bus kommt angefahren, bevor ich mich aus meiner Erstarrung löse. Steht da an der Haltestelle und nimmt mir die Sicht.
    »Hast du nicht noch Unterricht?«
    Ich drehe mich um. Die Sekretärin von der König steht da. Eigentlich kann ich sie gut leiden. Doch im Augenblick stört sie.
    »Frau Hettich hat mich aus dem Klassenzimmer geschickt«, sage ich.
    Sehe ich sie lächeln? Ja. Sie lächelt.

    »Da ist ja heute eine hohe Fluktuation bei euch«, sagt sie, »deine Freundin Hanna habe ich auch schon getroffen.«
    »Wissen Sie, wo Hanna ist?«, frage ich.
    Doch sie schüttelt den Kopf. »Ich fürchte fast, sie hat das Schulgelände verlassen«, sagt sie, und ihr Lächeln erstirbt.
    Hanna ist eben mutig. Die geht einfach davon und schert sich nicht, ob Erwachsene sie für ein gutes Kind halten. Ich gucke durch die Glastür. Die Bushaltestelle liegt verlassen. Kein Bus. Kein Jan. Langsam mache ich kehrt. Gehe zu meiner Klasse zurück. Ich muss was ändern in meinem Leben. Endlich die letzten Schalen abstreifen. Kein Küken mehr sein. Ein glanzvoller Schwan werden. Ein mutiger Schwan.

9
    Das war eher eine Gans, die da am späten Nachmittag nach Hause schlich. Ich habe bei Hanna geklingelt, doch keiner
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