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Home Run (German Edition)

Home Run (German Edition)

Titel: Home Run (German Edition)
Autoren: John Grisham
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1
    Der Tumor in der Bauchspeicheldrüse meines Vaters wurde letzte Woche entfernt, in einer Operation, die fünf Stunden dauerte und schwieriger war, als die Ärzte erwartet hatten. Anschließend eröffneten sie ihm, dass die meisten Menschen in seinem Zustand nicht länger als neunzig Tage überlebten. Da ich weder von der Operation noch von dem Tumor etwas gewusst hatte, war ich nicht bei ihm, als er sein Todesurteil erhielt. Kommunikation ist für meinen Vater Nebensache. Vor zehn Jahren ließ er sich von seiner damaligen Frau scheiden und war bereits mit der nächsten zusammen, bevor ich etwas davon erfuhr.
    Irgendwann rief seine jetzige Ehefrau – sie ist Nummer fünf oder Nummer sechs – bei mir an, erinnerte mich daran, wer sie war, und teilte mir die nötigsten Details über den Tumor und die damit verbundenen Umstände mit. Agnes erklärte, mein Vater fühle sich nicht wohl und wolle nicht reden. Ich erwiderte, er habe nie reden wollen, egal, ob es ihm gut oder schlecht gegangen sei. Sie bat mich, dem Rest der Familie Bescheid zu geben. Fast hätte ich »Warum?« gefragt, doch ich wollte mich mit der armen Frau nicht streiten.
    Der »Rest der Familie« besteht aus meiner jüngeren Schwester Jill und meiner Mutter. Jill lebt in Seattle, und soweit ich weiß, hat sie seit zehn Jahren nicht mehr mit unserem Vater gesprochen. Sie hat zwei kleine Kinder, die ihn nicht kennen und auch nie kennenlernen werden. Meine Mutter hat zwölf Jahre Ehe mit ihm überstanden und sich dann zum Glück scheiden lassen. Jill und mich hat sie damals mitgenommen. Ich habe so eine Ahnung, dass ihr die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod schlichtweg egal sein wird.
    Es versteht sich von selbst, dass wir Weihnachten nicht zusammen verbringen und auch keine Geschenke unterm Baum austauschen.
    Nach dem Anruf von Agnes sitze ich an meinem Schreibtisch und denke darüber nach, wie das Leben ohne Warren, meinen Vater, sein wird. »Warren« nenne ich ihn seit dem College, weil er immer eher eine Person, ein Fremder, war als mein Vater. Er hat nicht protestiert. Ihm ist es immer egal gewesen, wie ich ihn anrede, und ich bin stets davon ausgegangen, dass es ihm am liebsten ist, wenn ich überhaupt nicht mit ihm rede. Gelegentlich versuchte ich es trotzdem; er nicht.
    Nach ein paar Minuten gestehe ich es mir ein. Das Leben ohne Warren wird genauso sein wie das Leben mit ihm.
    Ich rufe Jill an und berichte ihr von den Neuigkeiten. Ihre erste Frage ist, ob ich vorhätte, zur Beerdigung zu gehen, was ich für etwas verfrüht halte. Sie will wissen, ob sie versuchen soll, ihn zu besuchen, um Hallo zu sagen und sich von ihm zu verabschieden und so zu tun, als würde ihr etwas an ihm liegen, obwohl dem nicht so ist. Mir liegt auch nichts an ihm, und schließlich geben wir es beide zu. Wir haben nichts für Warren übrig, weil wir ihm immer egal waren. Er verließ die Familie, als wir Kinder waren, und hat die letzten dreißig Jahre damit verbracht, so zu tun, als gäbe es uns nicht. Jill und ich haben beide selbst Kinder, und für uns ist es unvorstellbar, dass ein Vater nichts mit seinen eigenen Sprösslingen anfangen kann.
    »Ich werde ihn nicht besuchen«, verkündet sie schließlich. »Jetzt nicht und später auch nicht. Was ist mit dir?«
    »Ich weiß es nicht«, erwidere ich. »Ich muss darüber nachdenken.«
    In Wirklichkeit ist mir schon klar, dass ich ihn besuchen werde. Er hat zwar fast alle Brücken hinter sich abgebrochen, doch es gibt eine wichtige, unerledigte Sache, mit der er sich vor seinem Tod noch beschäftigen muss.
    Meine Mutter lebt mit ihrem zweiten Mann in Tulsa. In der Highschool war Warren die absolute Sportskanone und sie die Homecoming Queen, das beliebteste Mädchen der Schule. Als die beiden heirateten, jubelte die ganze Stadt mit ihnen, doch nach ein paar Jahren mit Warren war es vorbei mit dem Jubel. Ich weiß, dass sie seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander gesprochen haben. Warum auch?
    »Mom, ich habe schlechte Nachrichten«, sage ich ins Telefon, während ich versuche, angemessen verhalten zu klingen.
    »Was gibt es?«, fragt sie schnell. Vermutlich hat sie Angst, dass einem ihrer Enkelkinder etwas passiert ist.
    »Warren ist krank. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Er hat keine drei Monate mehr zu leben.«
    Eine Pause, Erleichterung, und dann: »Ich dachte, er wäre schon tot.«
    Da haben wir’s. Bei Warrens Beerdigung werden sich die trauernden Familienangehörigen nicht auf die Füße treten.
    »Tut mir
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