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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten
Autoren: Hillary Jordan
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    ALS SIE ERWACHTE, WAR SIE ROT. Nicht errötet, nicht von der Sonne verbrannt, sondern rot wie das satte, plastische Rot eines Stoppschildes. Zuerst besah sie ihre Hände. Sie hielt sie vor die Augen und blinzelte sie an. Einige wenige Sekunden sahen sie, beschattet von ihren Wimpern und beleuchtet vom harten weißen Licht, das von der Decke fiel, fast schwarz aus. Dann gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, und die Sinnestäuschung verschwand. Sie schaute sich erst die Handaußenseiten, dann die Handinnenseiten an. Sie schwebten über ihr wie Seesterne aus einer anderen Welt. Sie wusste, was sie erwartete – schon oft hatte sie dieses Rot gesehen, auf der Straße und im Video –, doch dass ihr eigenes Fleisch diese Farbe haben könnte, darauf war sie nicht vorbereitet. In den sechsundzwanzig Jahren ihres Lebens waren ihre Hände immer rosafarben gewesen, mit einer Spur von Honig darin, und im Sommer goldbraun. Jetzt aber hatten sie die Farbe von frisch vergossenem Blut.
    Sie fühlte Panik in sich aufsteigen, ihr Hals war wie zugeschnürt, und ihre Glieder begannen zu zittern. Sie schloss die Augen und zwang sich, still zu liegen, ihre Atmung zu verlangsamen und sich auf das langsame Heben und Senken ihres Bauches zu konzentrieren. Das Einzige, was sie trug, war ein kurzes ärmelloses Hemd, doch ihr war nicht kalt. Die Temperatur im Zimmer war genau auf ihr Wohlbefinden eingestellt. Bestraft wurde sie auf eine andere Weise: durch Einsamkeit, Langeweile und das Schlimmste von allem – durch ständige Selbstbetrachtung, sowohl im übertragenen Sinn als auch wörtlich gemeint. Sie hatte die Spiegel noch nicht gesehen, doch sie spürte sie in den Ecken ihres Bewusstseins schimmern, als warteten sie nur darauf, ihr zu zeigen, was aus ihr geworden war. Auch die Kameras hinter den Spiegeln, die jedes Augenzwinkern und jede Muskelzuckung aufzeichneten, konnte sie nahezu physisch wahrnehmen. Sie spürte die Aufseher, Ärzte und Techniker, die vom Staat angestellt waren, und die Millionen von Menschen zu Hause, die ihr und ihrem Leid zusehen konnten. Da saßen sie mit den Füßen auf ihren Couchtischen, ein Bier oder Mineralwasser in der Hand, und fixierten den Bildschirm. Sie schwor sich, dass sie nichts von sich preisgeben würde: keine Nachweise oder Besonderheiten für Fallstudien über sie, keine Reaktionen, die deren Hohn oder Mitleid hervorrufen könnten. Sie würde sich aufsetzen, ihre Augen öffnen, sehen, was zu sehen war, und dann in aller Ruhe darauf warten, dass man sie freiließ. Dreißig Tage waren keine so lange Zeit.
    Sie atmete tief durch und setzte sich aufrecht hin. An allen vier Wänden der Zelle befanden sich Spiegel. Sie zeigten einen weißen Boden und eine weiße Decke, eine weiße Schlafplattform mit einer Pritsche, eine transparente Duscheinheit, ein weißes Waschbecken und eine weiße Toilette. Und mittendrin in diesem makellosen Weiß einen grellen roten Fleck, das war sie selbst, Hannah Payne. Sie sah ein rotes Gesicht – ihr Gesicht. Rote Arme und Beine – ihre Arme und Beine. Selbst das Hemd, das sie trug, war rot, wenn auch nicht so leuchtend rot wie ihre Haut.
    Sie wünschte, sie könnte sich zu einer Kugel zusammenrollen und sich verstecken, sie wünschte, sie könnte laut schreien und mit ihren Fäusten gegen das Glas schlagen, bis dieses zerbrach. Doch bevor sie irgendeinem dieser Impulse nachgeben konnte, verkrampfte sich ihr Magen, und sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie rannte zur Toilette. Sie übergab sich, bis nichts mehr im Magen war außer Galle. Sie lehnte sich matt gegen den Sitz, ihren Arm als Kissen unter ihr verschwitztes Gesicht gelegt. Und nach einigen Sekunden errötete selbst die Toilette.
    Die Zeit verging. Dreimal erklang ein Ton, und dann öffnete sich an der Wand gegenüber eine Verkleidung, und ein Tablett mit Essen wurde in einer Nische sichtbar. Hannah blieb auf dem Boden sitzen und bewegte sich nicht, sie fühlte sich zu krank, um etwas zu essen. Die Verkleidung ging wieder zu, und der Ton erklang erneut, zweimal. Dann gab es eine kurze Verzögerung, und der Raum wurde dunkel. Noch nie war Dunkelheit für sie so willkommen gewesen. Sie kroch zu der Plattform und legte sich auf die Pritsche. Schließlich schlief sie ein.
    Sie träumte davon, sie wäre mit Becca und ihren Eltern auf Mustang Island. Becca war neun, Hannah sieben. Sie bauten eine Sandburg. Becca errichtete die Burg, Hannah grub den Burggraben. Ihre Finger pflügten durch den Sand,
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