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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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das wenigstens wäre.«
    Den Ober wies sie zurecht, und unter mehrfacher Entschuldigung nahm er unsere Bestellung wieder mit. Ihre Stimme konnte so kühl und scharf klingen. Früher hatte ich mich davor gefürchtet, heute war es mir nur unangenehm.
    »Wenn ich Kaviarblinis esse, möchte ich, dass sie mehr sind als nur in Ordnung. Und lauwarmer Champagner ist eine Zumutung.« Sie schaute mich an. »Du hättest sie gegessen, nicht wahr?«
    Ich nickte.
    »Dein Vater auch. In manchen Dingen seid ihr euch sehr ähnlich.«
    »Wie meinst du das?«, fragte ich. Es klang nicht wie ein Kompliment.
    »Ist es eure Bescheidenheit, eure Passivität oder eure Scheu vor Konflikten, die ich nicht verstehen kann? Warum sollte ich mich nicht beschweren, wenn ich etwas von ungenügender Qualität bekomme?«
    »Es ist mir lästig.«
    »Ist es Schüchternheit oder Arroganz?«, fuhr sie fort, als hätte sie mich nicht gehört.
    »Was soll das mit Arroganz zu tun haben?«
    »Ihr wollt euch nicht mit dem Kellner abgeben«, sagte sie, und in ihrer Stimme lag eine Wut, die ich mir nicht erklären konnte. Mit salzigen Blinis und lauwarmem Champagner hatte sie nichts zu tun. »Er ist es nicht wert. Das nenne ich Arroganz.«
    »Nein, es ist mir einfach nicht so wichtig«, sagte ich. Das war nur die halbe Wahrheit, aber ich hatte keine Lust auf eine lange Diskussion. Mir war es peinlich, mich zu beschweren, egal, ob im Restaurant, in einem Hotel oder beim Einkaufen. Aber es machte mir mehr aus, als ich zugab. Es kränkte mich, und im Nachhinein ärgerte ich mich oft über meine Nachgiebigkeit. Bei meinem Vater war das anders. Sein Schweigen in solchen Situationen war echt. Ihm war es wirklich nicht wichtig. Wenn ihm jemand unhöflich begegnete oder ihn schlecht behandelte, empfand er das nicht als sein Problem, sondern als das des anderen. Er lächelte, wenn sich jemand in einer Schlange vor ihn drängte. Er zählte nie sein Wechselgeld, meine Mutter jeden Cent. Ich beneidete ihn um seine Gelassenheit. Meine Mutter verstand ihn nicht. Sie war streng mit sich und mit anderen. Mein Vater nur mit sich.
    »Wie kann es dir nicht so wichtig sein, ob du gut behandelt wirst, ob du bekommst, was dir zusteht? Das begreife ich nicht.«
    »Können wir es nicht dabei belassen?«, sagte ich, mehr bittend als fordernd. Um sie abzulenken, fügte ich hinzu:
    »Machst du dir Sorgen um Papa?«
    Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein. Sollte ich?«
    Heute frage ich mich, ob die Gelassenheit meiner Mutter nicht gespielt war. Wir verloren kein Wort über den geplatzten Termin. Sie erkundigte sich nicht im Büro, ob er sich gemeldet hatte. Warum war sie sich so sicher, dass ihm nichts zugestoßen war? Interessierte es sie nicht? Oder hatte sie schon seit Jahren geahnt, dass dieser Moment einmal kommen würde? Ihre Ruhe, ihre Ausgelassenheit an diesem Tag hatten etwas von der Erleichterung eines Menschen, der eine Katastrophe kommen sieht, weiß, dass er ihr nicht entfliehen kann, und am Ende froh ist, wenn es endlich passiert.
    Wenige Wochen später saß Francesco Lauria, Leiter der Sonderkommission, die nach meinem Vater fahndete, bei uns in der Küche. Der New Yorker Polizeipräsident hatte ihn zu Beginn der Ermittlungen meiner Mutter als einen seiner besten Fahnder vorgestellt. Seither war er unser ständiger Hausgast. Er war jung, Mitte dreißig, schlank, muskulös und sehr eitel. Seine schwarzen Haare lagen so präzise, als würde er sie jeden Morgen nachschneiden. Er trug elegante Anzüge und italienische Krawatten. Das Auffallendste war seine Sprache. Er war eloquent und charmant und wählte seine Worte ähnlich sorgfältig wie ein guter Rechtsanwalt vor Gericht. In den ersten Tagen, die mein Bruder, meine Mutter und ich mehr oder weniger neben dem Telefon verbrachten, rief er häufig noch gegen Mitternacht aus dem Präsidium an. Er tröstete uns, erzählte von der hohen Aufklärungsquote bei Entführungen und von Fällen, in denen der Mann nach zwei oder drei Wochen plötzlich unversehrt wieder vor der Tür stand. Mein Vater war für ihn eine Karrierechance, und er war fest entschlossen, sie zu nutzen. »Einflussreicher Wall-Street-Rechtsanwalt spurlos verschwunden«, schrieb die New York Times und zitierte Lauria gleich mehrmals auf der Titelseite des Lokalteils. In den folgenden Tagen waren die Zeitungen voller Spekulationen. War es Mord, die Rache eines Mandanten? Eine spektakuläre Entführung? Hatte Hollywood etwas damit zu tun?
    Was die Polizei in
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