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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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vollkommen altmodisch aussah und die Mütter meiner Freundinnen mit einer Verbeugung begrüßte. Die anderen Kinder kicherten und lachten, wenn er mich gelegentlich von der Schule abholte. Dann tat er mir Leid, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ihm das weniger wehtat als mir. Er trug niemals Sportschuhe, Jeans oder Sweatshirts und verachtete die legere amerikanische Art der Bekleidung. Sie ziele auf die niederen Instinkte des Menschen, und dazu gehöre die Bequemlichkeit, sagte er.
    Mein Vater stand vor dem Bett und flüsterte meinen Namen. Er müsse zu einem Termin nach Boston und könne noch nicht genau sagen, wann er zurückkomme. Vermutlich erst in ein paar Tagen. Das war ungewöhnlich, denn seine Terminplanung funktionierte so zuverlässig wie das Laufwerk seiner Armbanduhr, außerdem flog er häufig nach Boston, aber nie über Nacht. Ich war zu müde, um mich zu wundern. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Ich liebe dich, mein Kleines. Vergiss das nie. Hörst du?«
    Ich nickte im Halbschlaf.
    »Ich liebe dich. Pass gut auf dich auf.«
    Ich drehte mich um, drückte mein Gesicht in das Kissen und schlief weiter. Seither ist er verschwunden. Spurlos.
    Der erste Hinweis, dass etwas nicht stimmte, kam morgens kurz nach zehn. Ich hatte lange geschlafen und war gerade erst in die Küche gekommen. Mein Bruder war schon wieder auf dem Weg nach San Francisco, meine Mutter wartete mit dem Frühstück auf mich. Sie saß im Wintergarten vor einer Tasse Kaffee und blätterte in der Vogue . Wir trugen beide noch unsere Morgenmäntel, auf dem Tisch lagen warme Zimtschnecken, und es gab frische Bagel, geräucherten Lachs, Honig und Erdbeermarmelade. Ich saß auf meinem alten Platz, den Rücken an die Wand gelehnt, Füße auf der Stuhlkante, die Beine angewinkelt und fest umschlungen. Ich nippte an meinem Orangensaft und erzählte meiner Mutter von meinen Plänen für den Sommer. Das Telefon klingelte. Es war Susan, die Sekretärin meines Vaters. Ob er krank sei, wollte sie wissen. Sein Zehn-Uhr-Termin, weiß Gott kein unwichtiger, warte auf ihn. Von Boston wusste sie nichts.
    Meine Mutter war die weniger Beunruhigte, vermutlich, weil sie keinen Hollywood-Mogul samt Anwälten vor sich sitzen hatte. Irgendetwas Kurzfristiges musste dazwischengekommen sein, die beiden Frauen waren sich einig. Er hatte es nicht geschafft anzurufen, war jetzt in einer Sitzung und würde sich bestimmt, da hatten sie keine Zweifel, in den nächsten Stunden melden.
    Meine Mutter und ich frühstückten in Ruhe zu Ende. Meinen Vater erwähnten wir mit keinem Wort. Später gingen wir gemeinsam zur Kosmetikbehandlung, anschließend durch den Central Park zu Bergdorf and Goodman. Es war einer dieser warmen Frühsommertage, an denen es noch nicht zu feucht und zu heiß ist. Selten ist New York schöner. Im Park roch es nach frisch gemähtem Gras, auf der Sheep Meadow lagen Menschen in der Sonne, und ein paar Jungs spielten mit nackten Oberkörpern Frisbee. Vor uns liefen zwei ältere Männer Hand in Hand auf Rollschuhen. Am liebsten wäre ich stehen geblieben, hätte die Augen geschlossen und die Welt umarmt. An solchen Tagen hatte ich das Gefühl, das Leben sei nichts anderes als eine Ansammlung von Möglichkeiten, die nur darauf warteten, von mir genutzt zu werden.
    Meine Mutter zog mich weiter.
    Sie kaufte mir bei Bergdorf and Goodman ein gelbes, geblümtes Sommerkleid und lud mich danach zum Tee ins Plaza ein. Ich mochte das Hotel nicht; dieses französische Renaissanceimitat war mir zu verspielt, zu kitschig, aber ich hatte es längst aufgegeben mit meiner Mutter woanders Tee trinken zu wollen. Sie liebte die Lobby mit dem vergoldeten Stuck an den hohen Decken und Wänden, den Säulen, so verschnörkelt und verziert, als wären sie aus Zuckerguss. Sie genoss die prätentiöse Art der Kellner und die Weise, wie der französische Maître sie mit »Bonjour, Madame Win« begrüßte. Wir saßen zwischen zwei Palmen neben einem kleinen Buffet mit Kuchen, Pralinen und Eis. Zwei Stehgeiger spielten Wiener Walzer.
    Meine Mutter bestellte Kaviarblinis und zwei Gläser Champagner.
    »Gibt es noch etwas zu feiern?«, fragte ich.
    »Dein Examen, mein Schatz.«
    Wir probierten unsere Blinis. Sie waren zu salzig, der Champagner zu warm. Meine Mutter gab dem Kellner ein Zeichen.
    »Lass es Mama«, protestierte ich. »Es ist doch in Ordnung.«
    »Nicht einmal das«, sagte sie zu mir in einem milden Ton, als verstünde ich davon nichts. »Wenn es
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