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Herzenhören

Herzenhören

Titel: Herzenhören
Autoren: J Sendker
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den ersten zwei Wochen ermittelte, machte den Fall nur noch rätselhafter. Mein Vater war am Tag seines Verschwindens tatsächlich frühmorgens zum JFK-Flughafen gefahren, aber nicht nach Boston geflogen, sondern nach Los Angeles. Er hatte das Ticket am Flughafen gekauft und kein Gepäck aufgegeben. Von Los Angeles flog er weiter mit United Airlines, Flug 888, First Class, nach Hongkong. Ein Steward erinnerte sich an ihn, weil er keinen Champagner trank und auch keine Zeitung las, sondern ein Buch mit Gedichten von Pablo Neruda. Er beschrieb ihn als sehr ruhig und ausgesprochen höflich; er habe wenig gegessen und kaum geschlafen, sich keinen Film angesehen und die meiste Zeit gelesen.
    In Hongkong verbrachte mein Vater eine Nacht im Penninsula Hotel, Zimmer 218, bestellte beim Roomservice ein Curryhuhn und Mineralwasser und verließ nach Aussagen des Personals sein Zimmer nicht. Am nächsten Tag flog er mit Cathay Pacific 615 nach Bangkok und übernachtete im Mandarin Oriental. Offensichtlich gab er sich keine Mühe, seine Spur zu verwischen; er wohnte in denselben Hotels, die er auch auf Geschäftsreisen benutzte und zahlte alle Rechnungen mit Kreditkarte. Als habe er gewusst, dass, zumindest für die Ermittler, seine Reise hier enden würde. Vier Wochen später fand ein Bauarbeiter seinen Pass in der Nähe des Bangkoker Flughafens.
    Vieles deutete darauf hin, dass er Thailand nicht wieder verlassen hatte. Die Polizei prüfte alle Passagierlisten der Flüge ab Bangkok, sein Name tauchte nirgendwo auf. Lauria vermutete zeitweilig, dass er sich in Thailand einen falschen Pass besorgt hatte und unter anderem Namen weitergeflogen sei. Mehrere Thai-Air-Stewardessen glaubten, ihn gesehen zu haben. Eine angeblich auf einem Flug nach London, eine andere auf dem Weg nach Paris und ein dritte in einer Maschine nach Phnom Penh. Alle Nachforschungen ergaben nicht das Geringste.
    Die Beziehung zwischen Lauria und meiner Mutter hatte sich im Laufe der Ermittlungen immer mehr verschlechtert. Zu Beginn war er voller Sympathie für die Familie des Opfers, besonders für die Ehefrau, »der das Leid ins Gesicht geschrieben steht«, wie er es Reportern gegenüber ausdrückte. Wenn er anrief, klang seine Stimme so freundlich, warm und vertraut wie die unseres Hausarztes. Doch das Mitgefühl verwandelte sich allmählich in Misstrauen, weil er nicht verstand, dass wir so viele Fragen über die Vergangenheit meines Vaters nicht beantworten konnten. In seinen Augen behinderten wir die Ermittlungen. Wie kann es möglich sein, dass eine Frau nicht weiß, wo ihr Mann geboren wurde. Nicht das Datum, nicht einmal das Jahr des Geburtstages kennt. Namen der Schwiegereltern? Meine Mutter hatte den Kopf geschüttelt. Geschwister? Jugendfreunde?
    Nach Angaben der Einwanderungsbehörde war mein Vater 1942 mit einem Studentenvisum von Birma in die USA gekommen. Er hatte in New York Jura studiert und wurde 1959 amerikanischer Staatsbürger. Als Geburtsort hatte er Rangun angegeben, die Hauptstadt der ehemaligen britischen Kolonie. Nachforschungen des FBI und der amerikanischen Botschaft in Rangun ergaben keinerlei Hinweise. Win ist ein geläufiger Nachname in Birma, und niemand schien die Familie meines Vaters zu kennen.
    Lauria nahm einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee.
    »Es tut mir Leid, Mrs. Win, wir kommen nicht weiter«, sagte er, und ich erkannte am Ton, dass er uns die Schuld oder zumindest einen Teil der Schuld gab. »Ich möchte Ihnen noch einmal ein paar Fragen stellen. Hinter jedem Detail, jedem noch so unbedeutend erscheinenden Hinweis, kann eine Spur stecken, die uns weiterhilft.«
    Er holte einen Kugelschreiber und einen Notizblock aus der Tasche.
    »Ist Ihnen in den Wochen vor dem Verschwinden Ihres Mannes etwas aufgefallen? Andere Gewohnheiten? Hat er Namen erwähnt, die Ihnen unbekannt waren?«
    »Das haben Sie mich schon einmal gefragt«, antwortete meine Mutter gereizt. Sie gab sich keine Mühe, ihren Unmut zu verbergen.
    »Ich weiß. Vielleicht ist Ihnen in den vergangenen Wochen noch etwas eingefallen. Manchmal hilft ein gewisser Abstand.«
    »Mein Mann hat mehr meditiert als früher. Nicht nur, wie üblich, eine Dreiviertelstunde am Morgen, sondern auch abends nach dem Essen. Aber das sagte ich Ihnen bereits.«
    »War er angespannter oder unruhiger?«
    »Nein, im Gegenteil.«
    »Fröhlicher?«, fragte Lauria erstaunt.
    »Mein Vater war kein fröhlicher Mensch, nicht in dem Sinne«, mischte ich mich in das Gespräch ein. »Er
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