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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß
Autoren: Anne Bax
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Dach schwebte, was ihre Freude über die Rückkehr der Eltern verstärkte. »Hat jemand heute nach einer grünen Tasche gefragt? Oder irgendetwas Grünem?« Ich drückte die Taste der Funke, während ich langsam Richtung Plattform ging.
     
    Helmut, der Hausmeister, knurrte als Erster eine Antwort. »Bei mir nicht.«
     
    Auch die Kasse und die Garderobe verneinten und verabschiedeten sich in den Feierabend. Ich ging näher. Also hatten wir hier einen Gegenstand, den niemand vermisste. In der Dämmerung und auf diese Entfernung sah die Fundsache jetzt eher wie eine kleine Skulptur aus, vielleicht fünfzehn Zentimeter hoch, unten breiter oben schlanker. Konnte auch eine Vase sein. Wer vergaß denn eine Vase? »Helmut schaust du mal auf den Monitoren, ob noch jemand außer mir auf dem Dach ist?« Vielleicht ließ sich der Besitzer ja noch zeitnah mit seinem Eigentum wieder vereinigen.
     
    »Wer soll denn da noch sein? Ich sehe nix!« Wahrscheinlich hatte er gar nicht geguckt.
     
    Ich trat vom Weg, der in weitem Kreis um die erhöhte Dachmitte des Gasometers führte, auf die Plattform hinunter und blieb ungefähr zwanzig Meter vor dem grünen Gegenstand stehen. Ein ganz kleines, aber trotzdem spürbares Gefühl von Unbehagen ließ mich an dieser Stelle innehalten. Weit unten kreischten die Bremsen des Güterzugs klagend auf, als sollten sie den Soundtrack für einen Horrorfilm liefern. Ich spielte mit der Taste des Funkgeräts und überlegte kurz, ob ich Helmut bitten sollte, zu mir aufs Dach zu kommen. Um gemeinsam eine Vase im Zwielicht zu betrachten? Seine Meinung dazu würde ich mir dann wochenlang anhören können. Vielleicht war das ja sogar ein Scherz der Aufsichten. Wenn ich mir allerdings überlegte, wer heute Dienst hatte, war auch das mehr als unwahrscheinlich. Diese spezielle Gruppe städtischer Angestellter musste schon in Einzelgesprächen beruhigt werden, wenn sie ihre Kaffeetassen verwechselte.
     
    Ich sah jetzt zum ersten Mal ganz genau hin. Nein, eine Vase war das auch nicht. Eher ein Schuh, ein großer, halbhoher Stiefel, über den ein Witzbold einen schrecklich grünen Wollstrumpf gezogen hatte. Der obere Teil hatte einen Zipfel, als hätte man dort einen Knoten gemacht. Also doch ein Scherz? Sehr lustig. Vom Licht des Tages war jetzt nicht mehr viel übrig. Die blauen Scheinwerfer, die den oberen Teil des Gasometers bei Einbruch der Nacht in einen Lichtkranz hüllten, glimmten langsam auf und tauchten die Plattform in unwirkliches Zwielicht. Der Güterzug fuhr auf der anderen Seite mit einem lauten Zetern seiner eisernen Räder wieder an und ich fuhr mit einem kleinen Schrei zusammen. Was war denn heute Abend mit mir los? Ich ging entschlossen weiter. Ja, das war ein Schuh, ein ziemlich großer halbhoher Herrenschuh, und auch das mit dem grünen Strumpf stimmte. Ich stellte mein Funkgerät auf den metallenen Boden und hob den Schuh hoch. Er war eiskalt und ein wenig feucht. Ich drehte ihn in beiden Händen. Die Kälte war so intensiv, dass ich sie in meinen Fingern spüren konnte. Wie konnte ein Schuh, noch dazu ein Schuh in einem so dicken, dichten Wollstrumpf, an einem so warmen Julitag so kalt sein? Schwer war er auch noch. Vielleicht war er aus Metall. Ich stellte den Schuh wieder auf den Boden und nestelte an dem Knoten, mit dem der Strumpf oben zusammengebunden war. Die neonfarbene Wollsünde war eindeutig selbst gestrickt, an den Fasern einiger giftgrüner Wollfäden hingen winzige, glitzernde Wassertropfen. Der Regen wurde stärker und ich fluchte, während der Knoten nur widerwillig nachgab. Endlich hatte ich ihn gelöst, zog das längere Ende aus der Schlaufe und spähte vorsichtig in die Öffnung. Die Seiten des Strumpfes klebten aneinander. Da war etwas Dunkles, etwas Rotes? Es sah aus wie eine … Blume? Ich zögerte kurz und griff dann langsam in den kalten, grünen Strumpf, der meinen Unterarm einen unschönen Augenblick lang wie ein feuchter, kratziger Ärmel umschloss, und berührte etwas Weiches. Ein wenig angewidert zog ich meine Hand schnell aus dem klammen, engen Wolltunnel und brachte mit festem Griff das weiche Objekt mit ans Dämmerlicht. Es war die perfekte Blüte einer großen, roten Rose ohne Stil. Eine Rose ohne Dornen. Sie war wunderschön und ihre Blätter schienen genau für dieses Licht gemacht zu sein, denn sie changierten gekonnt zwischen tiefschwarz und blutrot. Ich nahm eines der dunklen Blütenblätter zwischen die Finger. Es war ebenfalls eiskalt. Ein kleiner
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