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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß
Autoren: Anne Bax
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benutzten, um Reisende aus ländlich geprägten Bundesländern zu beruhigen. Die Tatsache, dass man eine so gepflegte und modisch tonangebende Stadt wie Düsseldorf vom Dach einer gewaltigen, eisernen Tonne sehen konnte, deren Innenwände auf ewig mit dunklem Schmierfett bedeckt waren, ließ ganz Oberhausen gleich mehr nach Armani und weniger nach Armut aussehen. Dort im fernen Düsseldorf roch es schon morgens nach Chanel, hier roch es den ganzen Tag nach Kanal.
     
    Ihr war das natürlich vollkommen unwichtig. Sie winkte fröhlich hinab zu einem langen Güterzug, der sich parallel zum Kanal mit vielen bunten Containern einem unbekannten Ziel entgegenschleppte. Ich nahm vorsichtig ihre warme Hand, ihre Finger schlossen sich mit angenehmem Druck um meine und wir schauten gemeinsam in den Sonnenuntergang. Die Sonne ging über Oberhausen natürlich nie an einem geraden Horizont unter, sondern sie blieb vorher immer an irgendeiner verbeulten Satellitenschüssel, einem qualmenden Schornstein oder einer frisch renaturierten Halde in der Nähe von Duisburg hängen. Im Moment riss sie sich gerade die komplette linke Seite an der Silhouette dreier stillgelegter, rostiger Hochöfen blutig und der ganze Himmel zerfloss dunkelrot.
     
    Meine neue Eroberung fand auch das schön. Die warme Luft, die ihr das lange Haar zerzauste, umgab uns mit dem Duft von feuchtem Asphalt, irgendwo weit weg hatte es schon zu regnen begonnen. Ich zog sie näher zu mir und suchte in ihren blauen Augen nach meinem Spiegelbild. Da war ich, mein schmales Gesicht, meine dunklen Augen, mein fragender Mund mitten in ihrem sanften Lächeln. Sie war ein paar Jahre jünger als ich oder sie war deutlich älter. Vielleicht waren wir auch beide fünfunddreißig. Mein Herz klopft, flüsterte sie. Ich lauschte. Wenn ich noch ein Herz gehabt hätte, hätte es jetzt bestimmt auch heftig und hörbar geklopft. Aber leider blieb es in dem hohlen Raum in meiner Brust absolut still. Was sicher nicht nur an dem emotionalen Frontalzusammenstoß lag, der mir in einem Sommer wie diesem vor ziemlich genau acht Jahren das Herz zertrümmert hatte, sondern auch daran, dass ich in Wirklichkeit hier oben auf dem Gasometer vollkommen allein war.
     
    Auf dem Kanal fuhr ein langes Binnenschiff Richtung Rhein und zog gerade seine Brücke ein, um unter der nächsten Eisenbahnüberführung hindurchzupassen. Kluges Schiff. Rechtzeitig den Kopf einzuziehen, hatte ich erst spät gelernt. Ich probierte, wie weit ich meinen Kopf zwischen die Schultern senken konnte, und war zufrieden, ich hätte locker unter der Brücke hindurchgepasst. Dann drückte ich meine Stirn gegen den Gitterkäfig über der Plattform, der verhinderte, dass Unglückliche ihre Probleme hier oben mit Hilfe der Schwerkraft lösten, und seufzte. Warum stellte ich mir ausgerechnet an diesem luftigen Ort immer so plastisch vor, dass es nach all den Jahren wieder eine Frau neben und ein Gefühl in mir geben könnte? »Weil das hier einfach unser Lieblingsplatz ist, nicht wahr?«, sagte ich zu der schmutzig grauen Taube, die am Rande des Daches bestätigend mit dem Kopf nickte. So nah am Abgrund, wie sie dort hockte, lief in ihrem Leben wohl auch nicht alles ganz glatt.
     
    Vielleicht hätte ich ja etwas mehr gespürt, wenn ich mir die Augen der Frau, die mir das vergiftete Apfel-stück aus dem Hals küssen sollte, grün vorgestellt hätte und ihre Haare kurz und perfekt geschnitten? Oder wenn ich ihr dunkle Augen gegeben hätte? Braune? Gesprenkelte? Ein grünes und ein blaues? Eine Augenklappe? Welches war eigentlich die häufigste Augenfarbe? Und welche gefiel mir am besten? Hatten mir IHRE Augen damals eigentlich von Anfang an gefallen? Ich starrte auf das eiserne Gitter, an dem ich allein lehnte, auf die Taube, die immer noch nickte, und konnte mich nicht erinnern. Das war gut. Alles was ich über SIE vergessen konnte war gut. Die Taube gurrte jetzt leidgeprüft und spähte entschlossen in die Tiefe. »Erstens kommt, wer auch immer dich verlassen hat, davon auch nicht zurück, zweitens kannst du fliegen. Also lass es!« Ich sprach so laut, dass die Taube erschreckt aufflog und mit wirrem Blick Richtung Kanal davonflatterte. Konnten Tauben schwimmen?
     
    Die Sonne hatte den Kampf gegen die drei toten Hochöfen mittlerweile verloren und war ergeben in einen der stillgelegten Erzbunker gefallen. Das nutzte der Regen, um zusammen mit der Dämmerung heranzueilen und das Dach, den Güterzug, das Schiff, die Stadt und mich
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