Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
Vom Netzwerk:
beklemmender. Bücherregale, ein alter Schaukelstuhl, Kommoden
mit Bettwäsche und Decken. Sie setzte sich in den Stuhl und begann, sachte hin-
und herzuwippen. Sie lauschte auf das leise Knarren, mit dem das Rohrgeflecht
aneinanderrieb. Die Sonne fiel durch das Dachfenster auf ihr Gesicht, Staub
tanzte im Licht. Sie schloss die Augen.
    Der Geruch... so satt von Sommer, Ernte und Heu. Von Holz und Harz. Der
niedrige Raum weitete sich, die Wände wuchsen in die Höhe. Es war dunkel, und
durch das Fenster konnte sie die Sterne sehen. Sie funkelten wie Diamanten auf
tiefblauem Samt. Jemand hielt sie im Arm. Sie spürte die Wärme eines anderen
Körpers und schmiegte sich in sie hinein. Über ihnen leuchtete Kassiopeia. Sie
folgte der Spitze des »W« und fand den Polarstern. Sie würde sich nie wieder
verirren. »Dafür bezahle ich Sie aber nicht!«
    Judith schreckte hoch. Sie sah den Kopf einer älteren Dame, die schwer
atmend auf halber Treppe stehen geblieben war.
    »Es tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«
    Die Frau stieg die restlichen Stufen hoch und sah sich um. Sie war einen
Kopf kleiner als Judith, zierlich von Statur und hatte weiße Haare, die sie zu
akkuraten Wasserwellen gelegt hatte. Sie trug ein bequemes Jerseykostüm und
Schuhe, die nach Orthopäde aussahen.
    »Mein Gott«, sagte sie und schüttelte missbilligend den Kopf. »All dieser
Krempel. Der junge Mann da unten, gehört er zu Ihnen?«
    »Ja. Das ist Kai. Judith Kepler,
Dombrowski Facility Management. «
    Sie reichte der Frau die Hand. Erwartete, etwas zu spüren. Blutsbande?
Wiedererkennen? Das plötzliche Aufflackern von Erkenntnis in den Augen der
anderen? Nichts dergleichen geschah. Judith spürte, wie eine flüchtige
Enttäuschung ihr Herz streifte und sie sofort wieder verließ.
    »Sie machen hier sauber? Ich bin Andrea Günzle. Der Verstorbene war mein
Cousin.«
    »Mein aufrichtiges Beileid.«
    Frau Günzle warf noch einen Blick in das andere Zimmer. Judith folgte
ihr. Zwei Kleiderschränke standen darin, Merzigs Cousine öffnete sie und
rümpfte die Nase.
    »Ach du je, du meine Güte«, murmelte sie vor sich hin. »Weg damit, alles
weg. Entrümpeln Sie auch?«
    »Ja, klar. Wir machen Häuser besenrein.«
    Frau Günzle schloss die Schranktür. »Horst, ich meine - der Verstorbene
und ich, wir standen uns nicht sehr nahe. Schrecklich, dass ihn seine
Vergangenheit so eingeholt hat. Er war ja, na, das wissen Sie bestimmt aus der
Zeitung. Also, viele Freunde hat er sich nicht gemacht.«
    »Weiß man schon mehr?«
    »Sie suchen diesen Kerl. Diesen dritten Mann. Offenbar hat die
Amerikanerin erst meinen Cousin erschossen und wollte dann auf den anderen los.
Das Loch unten in der Tür und alles, ich kenne mich da nicht so aus. Aber die
Polizei sagte mir, dass es wohl Notwehr war.«
    »Furchtbar«, murmelte Judith. Frau Günzle nickte.
    »Hatte er außer Ihnen noch Verwandte?«
    Frau Günzles Gesicht verschloss sich. Judith ärgerte sich, dass ihr diese
Frage herausgerutscht war. Sie wollte der netten alten Frau keine Last
aufbürden. Die Vergangenheit war tot. Wem war geholfen, wenn man über sie
redete? Sie musterte die alte Dame noch einmal verstohlen, die sich abgewandt
hatte und ein letztes Mal den Blick über die niedrigen Wände schweifen ließ.
Judith versuchte, eine Ähnlichkeit zu entdecken, aber sie fand keine. Höchstens
in der Art, wie sie sich bewegte: Zielgerichtet, schnell, alle Dinge im Auge
behaltend, und Abschiede nahm sie offenbar ziemlich nüchtern.
    »Nein«, sagte Frau Günzle schließlich. »Er hatte eine Tochter und eine
Enkelin. Aber die sind bei einem Unfall ums Leben gekommen.«
    »Ein Unfall.«
    »Ja. In Rumänien. Nachts, von der Straße abgekommen, Ende. Die ganze Familie.
Er war kein einfacher Mensch. Aber danach hat er eigentlich zu niemandem mehr
Kontakt gehabt. Er hat sich ...«
    Frau Günzle verließ den Raum und steuerte auf die Treppe zu. Plötzlich
blieb sie stehen.
    »... eingeschlossen«, vollendete sie ihren Satz. »Ja. So könnte man das
sagen. Er war wie einer dieser Fische in seinem Aquarium. Wir standen um ihn
herum und sahen ihn, aber er war wie in einer anderen Welt.«
    Frau Günzle schüttelte den Kopf und tastete nach dem Geländer, um
hinunterzusteigen.
    »Darf ich den Schaukelstuhl haben?«
    Die alte Dame drehte sich noch einmal zu ihr um. »Wenn Sie den alten
Staubfänger wollen ... besenrein, ja. Ich glaube, das wäre ihm recht.«
     
    Merzigs Haus in Biesdorf war der letzte Auftrag, den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher