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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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werden.«
    Sie sah ihn an, und die Erinnerung kehrte zurück. Seine Augen brannten,
als er ihren Blick in sich hineinließ und darauf wartete, dass sie ihren
Schuldspruch fällte.
    »Sie hat gesagt, dass du mich verlässt.«
    »Ich verlasse dich nicht. Niemals.«
    »Dass du sie liebst.«
    »Ich liebe sie nicht.«
    Sie atmete tief durch. Ihre Fingerspitzen zuckten. Kellermann streichelte
ihre Hand. Ich liebe sie nicht, dachte er. Was weiß ich, was Liebe ist. Aber
das hier, wir beide, kommt ziemlich nah ran.
    »Und dann ... war Nacht. Mehr weiß ich nicht. Was ist los?« Sie hob die
Arme und ließ sie wieder kraftlos sinken. »Was ist passiert?«
    »Die Tabletten?«, fragte er. »Du hast dir die Pulsadern aufgeschnitten.
Evchen. Du warst fast tot.« Seine Stimme brach. Es war ihm peinlich. So hatte
er sich noch nie erlebt. »Du warst fast tot.«
    »Ich hab das nicht gemacht«, flüsterte sie. »Ich würde dich doch nie
alleinlassen. Nur, wenn du mich nicht mehr willst.«
    Kellermann holte den Zettel hervor. »Hast du diesen Brief geschrieben?«
    »Einen Brief? Nein. Was für einen Brief?«
    Kellermann zerknäulte das Papier und steckte es wieder ein. »Es ist nicht
wichtig.«
    Sie schloss die Augen, ihre Hand suchte die seine. Sie begann, ruhig und
gleichmäßig zu atmen.
    »Bleib bei mir«, sagte er. »Verlass mich nicht. Ich will dich doch.«
    Die Krankenschwester kam auf leisen Sohlen zurück. »Fahren Sie nach Hause.
Sie müssen sich etwas anderes anziehen und ein paar Stunden schlafen.«
    »Ich kann nicht.«
    Sie wies auf seine blutbefleckten Hosenbeine, die unter dem grünen
Schutzumhang hervorschauten. »Tun Sie es für sie. Wenn sie wieder aufwacht.«
    Er sah an sich herab und gab ihr recht.
     
    Judith parkte neben zwei Umzugswagen, nahm ihre Tasche und sprintete in
die Baracke. Selbst wenn Kaiserley vorgehabt hätte, ihr zu folgen, wäre es ihm
in seinem Zustand nicht gelungen.
    Die Tür zu Dombrowskis Büro war nicht verschlossen. Überrascht starrte
sie auf die brennende Schreibtischlampe und die Gestalt, die sich, aus leichtem
Schlummer geweckt, hastig aufrichtete.
    »Hi«, sagte sie nur und blieb, außer Atem, stehen.
    Dombrowski nahm den Schirm der Lampe und richtete ihn auf Judith. Sie
legte die Hand vor die Augen, weil der Schein sie blendete. Sie machte auf dem
Absatz kehrt.
    »Hiergeblieben!«
    Dombrowski sprang auf, war in drei Schritten an der Tür und warf sie mit
einer Wucht zu, dass der Putz rieselte. »Knarre.«
    Sie holte die Pistole aus dem Hosenbund und gab sie ihm. Mit geübten
Bewegungen kontrollierte er die Waffe. Dann roch er an dem Lauf.
    »Was ist passiert?«
    »Nichts.«
    »Lüg mich nicht an!«
    Er riss die Schreibtischschublade auf und warf die Pistole hinein. Judith
zuckte zusammen. So hatte sie Dombrowski noch nie erlebt.
    »Bist du hierher geschwommen?«
    »Nein.«
    »Hör zu, Mädchen. Ich rieche auf hundert Meter gegen den Wind, wenn jemand
in der Scheiße steckt. Und du stinkst! Ich habe dir den Rücken freigehalten.
Ich habe die Bullen angelogen für dich. Kai hat dir mit deiner Stechkarte ein
Alibi gegeben. Du klaust meine Knarre. Du kommst nachts zurück, du hast geschossen,
du siehst aus wie der Tod. Sag jetzt endlich, was passiert ist!«
    »Ich kann nicht.«
    »Dann rufe ich die Bullen. Ich hab's noch nie getan, ich schwör es dir.
Aber jetzt ist das zu deinem eigenen Schutz.«
    Er ließ sich in seinen Schalck-Golodkowski-Sessel fallen und griff zum
Telefon. Judith stürzte sich auf ihn und riss ihm den Hörer aus der Hand.
    »Nein!«
    »Dann rede!«
    Judith legte auf. Ihre Hände zitterten. Sie sah Dombrowskis zerfurchtes
Gesicht und die Sorge, die in ihm geschrieben stand. Und noch etwas: Zuneigung.
Sie dachte an das Foto in ihrer Tasche und an Merzigs blutunterlaufene Augen,
und an eine Familie, die sich gegenseitig verraten hatte, und daran, dass es
trotzdem gut war, das alles nun zu wissen. Weil man nur das verachten konnte,
das man kannte. Mit dem Mögen schien es ähnlich zu sein.
    Sie hob die Hand und legte sie Dombrowski auf den kräftigen Arm.
    »Komm her«, sagte er heiser.
    Er zog sie auf seinen Schoß, nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Dabei
klopfte er ihr auf den Rücken wie ein Möbelpacker. Judith ließ es geschehen,
weil jede Zurückweisung ihn fürchterlich verletzt hätte. Und weil es sie
entfernt daran erinnerte, wie sie sich einen Vater vorgestellt hatte. Als sie
sich sanft wieder von ihm löste, hatte er feuchte Augen.
    »Hab nie eine Tochter
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