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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth
Autoren: Zeugin der Toten
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leicht wie möglich zu machen. Sie spürte
seine Arme und die Kraft, mit der er sie trug, weiter und immer weiter. Sie
konnte sich nicht erinnern, jemals getragen worden zu sein.
    Er stoppte, sie schlug die Augen auf. Sie standen vor einem niedrigen
Holzzaun. Judith kletterte hinüber und half Kaiserley. Sein Wagen stand an der
Ecke. Er stützte sich auf sie, und wieder fühlte es sich für einen Moment so
an, als wären sie ein Liebespaar, das einen spätabendlichen Spaziergang machte.
    Das Blaulicht geisterte über die Hausfassaden. Zwei Beamte klingelten bei
Merzig. Gerade entschloss sich einer, um das Haus herumzugehen. Er zog seine
Waffe und wurde vom Schatten verschluckt. Der andere ging zurück auf die
Straße und sah sich um.
    »Schlüssel«, flüsterte Judith.
    Kaiserley gab sie ihr. Sie schloss die Autotür auf und glitt hinter das
Steuer. Kaiserley setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie startete und fuhr
langsam los. Noch bevor sie die Bi erreichte, kamen ihr zwei weitere
Streifenwagen entgegen.
    »Judith ...«
    »Ich will nichts hören! Verstanden?«
    »Du musst darüber reden. Du hast einen Menschen getötet.«
    »Das war Notwehr.«
    »Du hast Dinge über deine Familie erfahren ...«
    »Ich habe keine Familie! Nicht so eine! Ich will sie nicht, ist das klar?
Ich will sie nicht!«
    »Sie haben dich geliebt. Sie haben das getan, damit du ein besseres Leben
hast!«
    »Ach ja?« Sie jagte den zweiten Gang ins Getriebe und preschte mit achtzig
auf die nächste Hauptstraße. »Ein tolles Leben. Ein schönes Leben! Vielen Dank
dafür! Zehn Jahre Heim! Mit sechzehn auf Trebe! Mit zwanzig an der Nadel! Das
soll besser gewesen sein?«
    »Judith!«
    Sie schaltete die Warnblinkanlage ein und ließ den Wagen am Straßenrand
ausrollen. Sie hielt mit beiden Händen das Lenkrad fest und legte den Kopf
darauf. So blieben sie stehen. Ein Krankenwagen raste die Straße hinunter und
bog nach Biesdorf ab. Ihm folgten zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei.
    »Ich hab's versaut«, sagte sie schließlich. »Ich allein.«
    »Nein. Du hast dich nur gewehrt. Es ist etwas in dir drin, das niemand löschen
konnte. Dein Mut. Dein Mitgefühl. Deine Stärke. Die ersten Lebensjahre sind
entscheidend dafür. Alles, was danach kam, hat dich verletzt, aber nicht
gebrochen. Du warst allein, du bist allein, und wenn du so weitermachst, wirst
du auch allein bleiben. Aber das wirst du selbst entscheiden, und nicht die
böse Welt.«
    »Ach, Scheiße«, murmelte sie. »Hör auf mit dem Quatsch.«
    »Okay.«
    Sie sah hoch, er lächelte.
    Der Verkehr war fließend, und sie tauchten wieder ein in die Anonymität
der Großstadt. Bis zur Landsberger Allee sagte keiner ein Wort. Sie bog links
ab Richtung Kreuzberg.
    »Wo fährst du hin?«
    »Zu Dombrowski.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz
vor zehn. »Die letzte Bürobrigade kommt gerade zurück. Danach ist Ruhe. Ich
muss die Pistole zurückbringen, bevor er was merkt.«
    Kaiserley nickte und sah so aus, als ob er sich mit dieser Antwort
zufriedengeben würde.
    »Das Handy«, sagte er. »Angelina wollte jemanden belasten. Ich frage mich,
wen.«
    Judith zuckte mit den Schultern. »In meiner Tasche. Drück einfach auf
Wahlwiederholung.«
     
    Kellermann saß an Evas Bett und hielt ihre Hand. Oder doch wenigstens die
Fingerspitzen, denn die waren das Einzige, was die Verbände an ihren Unterarmen
und Händen frei gelassen hatten. Die Schwester überprüfte ein letztes Mal die
Geräte der Intensivmedizin - Monitore mit zackigen Kurven, das hydraulische
Zischen der Beatmungsmaschine, die Infusionslösung, die aus einer Flasche
tropfenweise in Evas Körper geleitet wurde - und schenkte ihm ein aufmunterndes
Lächeln.
    Kellermann dachte zum tausendsten Mal an ihren Abschiedsbrief. Er begriff
ihre Verzweiflung. Er konnte sogar noch nachvollziehen, dass man
Schlaftabletten nahm und sich die Pulsadern öffnete. Er bezog diesen
Selbstmordversuch auf sich und seinen Betrug. Wen aber meinte sie mit »Ich habe
getötet«?
    Evas Lider flatterten. Ihre Hände wanderten unruhig über die Bettdecke.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an wie einen Fremden.
    »Eva?« Das Glück weitete seine Brust, schien sie fast zum Bersten zu bringen.
»Kannst du mich hören? Kannst du mich verstehen? Es wird alles gut. Glaub mir.
Alles wird gut.«
    Sie tastete nach dem Sauerstoffschlauch in ihrer Nase. »Was ist passiert?«
    »Ich werde es dir erklären, Eva. Eines Tages. Erst einmal musst du wieder
gesund
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