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Herr der zwei Welten

Herr der zwei Welten

Titel: Herr der zwei Welten
Autoren: Sibylle Meyer
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wirst.
    Morsena wollte fragen, wollte reden. Doch die Stimme in ihrem Kopf war verstummt. Sie war wieder allein! Doch das Gefühl der Leere stellte sich dennoch nicht wieder ein. Es gab Wesen wie sie, es gab ein Volk, zu dem sie gehörte. Dieses Wissen ließ sie wieder zu einem eigenen Wesen werden. Ihre Erinnerungen an ihr Volk waren noch durchscheinend, nicht greifbar. Aber Morsena wusste, dass der Tag kommen würde, wo sie alle Erinnerungen wieder haben würde. Und sie hatte eine neue Aufgabe. Eine Aufgabe, die ihr eigenes Volk ihr gegeben hatte. Was immer sie getan hatte, diese Aufgabe würde sie erfüllen!
    *
    Eugeñio und Gaston betraten die Höhle. Eine unbestimmte Ahnung hatte sie an den Ausgangspunkt ihres neuen Lebens gebracht.
    Wachsam blickten sie sich um. Etwas war hier! Etwas hatte sich verändert! Doch sie konnten nichts entdecken. Dennoch! Mit den in Jahrhunderten gereiften Sinnen spürten sie instinktiv, dass etwas nicht mehr so war, wie es beim letzten Mal gewesen war, als sie hier waren. Irgendetwas hatte sich sogar entschieden geändert! Trotzdem gelang es ihnen nicht, diese Veränderung zu definieren. Zu erklären.
    Eugeñio hielt den Atem an. Er lauschte. Sein Gehör wandte sich in weite Ferne. Es war, als hätte sich die Luft selbst verändert!
    „Spürst du das?“ fragte er Gaston.
    „Die Luft. Sie ist irgendwie dünner.“
    Eugeñio schloss die Augen. Seine Nasenflügel bebten. Ein wildes Tier, das Witterung aufnimmt. Er sog die Luft ein, behielt sie bei sich, und stieß sie so langsam wieder aus, dass er sie schmecken konnte.
    „Was ist?“ fragte Gaston.
    „Ich kann die Erde riechen.“
    Gaston nickte. „Dann stimmt es. Es waren Mücken. Sie sind hier durchgekommen.“
    Ja, Eugeñio konnte sie riechen. Ihre Blicke trafen sich. Wie war das möglich?
    Ihre Gehirne arbeiteten fieberhaft.
    „Was hat das zu bedeuten?“ Eugeñio hatte die Frage nur so gestellt, um irgendetwas zu sagen. Vielleicht auch nur um die Stille zu durchbrechen. Er erwartete keine Antwort.
    Schlagartig war da ein Licht. Es erfüllte die ganze Höhle. So hell. So warm. So schön!
    Gaston trat erschrocken zurück. Schützend hielt er sich die Hände vors Gesicht. Eugeñio blieb ruhig. Er kannte dieses Licht. Genauso fasziniert, wie die beiden anderen Male, betrachtete er das Licht, aus dem sich die Frau, das Lichtwesen, entwickelte. Morsena! Zum letzten Mal hatte Eugeñio sie in der Astralebene getroffen. Sie hatte nichts gesagt, hatte seinen Gedanken gelauscht und hatte ihm seinen innigsten Wunsch erfüllt. Sie war es, die ihn in diese Welt gebracht hatte. Sie war es, der er Julie zu verdanken hatte. Doch diesmal war sie nicht hier, um ihm zuzuhören. Diesmal kam sie auf ihn zu.
    Entgeistert starrte Gaston sie an. Für ihn war es das erste Mal, dass er sie sah. Er hatte Eugeñio zwar überwacht, als er sich in die Astralebene begeben hatte, aber er hatte Morsena noch niemals wirklich gesehen. Eugeñio hatte das Gefühl, dass Gaston nicht einmal mehr atmete. Er stand stocksteif da, seine Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht unbeweglich. Der Spanier konnte ihn gut verstehen. Vermutlich hatte auch er so ausgesehen, als er vor so langer Zeit, vor diesem Lichtwesen gestanden hatte. Morsena begann zu sprechen. Wie damals waren ihre Worte nicht mit den Ohren zu hören. Ihre Worte waren allein durch den Geist zu verstehen. Völlig lautlos. Wortlos. Mental.

    Ihre Gedanken nahmen im eigenen Hirn Gestalt an. Doch das, was sie ihnen diesmal übermittelte, war eher wie ein Bericht. Das Referat eines Anwalts. Der Vortrag eines Lehrers. Sie zeigte ihnen die Grenzen, die sich unkontrolliert öffneten. Sie führte ihnen die Gefahren vor Augen, die für beide Welten dadurch entstanden. Dann unterbreitete sie ihnen ihren Plan.
    Das konnte doch nicht sein! Was jetzt in ihren Hirnen entstand, war etwas schier Unmögliches. Bestürzt ließen sie diese Gedanken auf sich wirken. Morsena wollte, dass sie zurückgingen. In ihre eigene Welt. Nur so könnten sie das Schlimmste verhindern! Eugeñio fühlte plötzlich eine eiskalte Hand, die sich seinen Magen schnappte und ihn zusammenquetschte. Ihm war speiübel! Er begann tatsächlich zu taumeln und sein Blickfeld veränderte sich. Gaston griff zu, sonst wäre er wohl tatsächlich gestürzt. Nein! Das konnte sie nicht verlangen! Das würde bedeuten … Julie … seine Welt … sein Kind …
    Doch das Schlimmste war, das er die Notwendigkeit zurückzukehren, tatsächlich selbst spürte.
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