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Herr der Träume

Herr der Träume

Titel: Herr der Träume
Autoren: Roger Zelazny
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Daher beschloß Render, den Vormittag mit Nachdenken zu verbringen. Er betrat also den Empfangsraum seiner Praxis mit einer Zigarre und gerunzelter Stirn.
    »Haben Sie gesehen ...«, begann Mrs. Hedges.
    »Ja.« Er legte seinen Mantel auf den Tisch in einer Ecke des Zimmers. Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. »Ja«, wiederholte er. »Ich fuhr mit durchsichtigen Fenstern vorbei. Man beseitigte gerade die Spuren.«
    »Haben Sie ihn gekannt?«
    »Ich weiß nicht einmal seinen Namen.«
    »Priss Tully hat mich soeben angerufen. Sie ist Empfangsdame in der Konstruktionsfirma im achtundsechzigsten Stock. Sie sagt, es war James Irizarry, ein Reklamezeichner, der sein Büro auf demselben Gang hatte wie sie. Ein langer Fall. Er war wohl ohne Bewußtsein, als er aufprallte, oder? Wenn Sie das Fenster öffnen und sich hinausbeugen, können Sie dort links sehen, wo er ...«
    »Schon gut, Bennie. Hat Ihre Freundin eine Ahnung, warum er es tat?«
    »Eigentlich nicht. Seine Sekretärin kam schreiend über den Gang gelaufen. Sie hatte sein Zimmer betreten, um ihn wegen einiger Zeichnungen zu sprechen, als er gerade über das Fensterbrett sprang. Auf seinem Arbeitstisch befand sich eine Notiz. ›Ich habe alles erreicht, was ich wollte‹, stand darauf. ›Worauf soll ich noch warten?‹ Irgendwie komisch, hm? Ich meine nicht wirklich komisch, sondern ...«
    »Ja ... Wissen Sie etwas über sein Privatleben?«
    »Verheiratet, ein paar Kinder. Guter Ruf als Fachmann, eine Menge Aufträge. Er konnte sich ein Büro in diesem Gebäude leisten.«
    »Guter Gott!« Render wandte sich um. »Haben Sie seine Akte hier oder sonst was?«
    »Natürlich nicht.« Sie hob ihre fetten Schultern. »Ich habe Bekannte überall in diesem Bienenstock. Wenn nicht viel zu tun ist, unterhalten wir uns. Außerdem ist Prissy meine Schwägerin.«
    »Wollen Sie damit sagen, daß, falls ich in diesem Augenblick aus dem Fenster spränge, mein Lebenslauf innerhalb der nächsten fünf Minuten die Runde machen würde?«
    »Wahrscheinlich.« Sie verzog ihre glänzenden Lippen zu einem Lächeln. »Aber tun Sie es bitte nicht heute. Es wäre eine Antiklimax und würde nicht dieselbe Aufmerksamkeit erregen.
    Aber Sie sind ja ein Gehirnwäscher«, fuhr sie fort, »und würden so etwas nicht tun.«
    »Die Statistik widerspricht Ihnen. Mediziner und Anwälte haben dreimal so große Chancen wie andere Berufsgruppen.«
    »He!« Sie sah beunruhigt drein. »Gehen Sie von meinem Fenster weg! Da müßte ich für Dr. Hanson arbeiten, und er ist ekelhaft.«
    Er trat an ihren Schreibtisch.
    »Ich weiß nie, wann ich Sie ernst nehmen soll«, klagte sie.
    »Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme, wirklich. Aber ich lasse mich von Statistik nicht beeinflussen, sonst wäre ich bereits vor vier Jahren aus dem Psychiatriegeschäft ausgestiegen.«
    »Sie würden Schlagzeilen machen«, spann sie den Gedanken aus. »Die Reporter werden mich über Sie ausfragen ... He, warum tun sie es, hm?«
    »Wer?«
    »Alle.«
    »Woher soll ich das wissen, Bennie? Ich bin nur ein bescheidener Seelendoktor. Könnte ich auf eine allen Fällen zugrunde liegende Ursache hinweisen und vielleicht eine Methode entdecken, um die Krisis vorherzusehen – ja, das wäre für die Zeitungen interessanter, als wenn ich aus dem Fenster spränge. Aber ich kann es nicht, und das aus dem Grund, weil es keine gemeinsame Ursache gibt – glaube ich.«
    »Oh.«
    »Vor etwa fünfunddreißig Jahren lag Selbstmord in den USA an neunter Stelle unter den Todesursachen, heute an sechster.«
    »Und niemand wird je erfahren, warum Irizarry aus dem Fenster gesprungen ist?«
    Render nahm einen Stuhl und setzte sich. Er schnippte die Asche seiner Zigarre in ihren winzigen Aschenbecher. Sogleich leerte sie ihn in den Abfallschacht und hüstelte.
    »Nun, man kann ja Mutmaßungen anstellen, und in meinem Beruf tut man das auch. Zunächst einmal würde man die Charaktereigenschaften untersuchen, die zu Depressionen führen können. Menschen, die ihre Gefühle eisern unter Kontrolle halten, gewissenhafte Menschen und solche, die hauptsächlich mit kleinen Dingen und Details beschäftigt sind ...« Er schnippte wieder Asche in ihren Aschenbecher und sah zu, wie sie danach griff und dann rasch wieder ihre Hand zurückzog. Er grinste boshaft und fuhr dann fort: »Kurzum handelt es sich um die Eigenschaften von Personen mit Berufen, die keine Zusammenarbeit erfordern, sondern individuelle Leistungen: Mediziner,
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