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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht
Autoren: Tanith Lee
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Gebirge aus kahlen Felsenklippen, deren untere Terrassen schwarz waren von verbrannten Bäumen, während glänzende, dicke Wolken die darüberliegenden Zinnen umringten, die in einem merkwürdigen bräunlich-bleiernem Licht erstrahlten. Wenn die Morgendämmerung über der gequälten Welt anbräche, würde auch die Sonne über diesem Schauplatz aufgehen, aber jetzt war es Nacht auf der Erde und Nacht auch hier, und hier wie dort glitzerte ein roter Stern wie ein Tropfen Blut durch den schmutzigen Dunst.
    Irgendwo in der Wolke und dem Dunst bewegte der Kopf und der Mund und der Kern des Hasses seine braunen, runden Lippen. Er konnte auch durch seinen Mund sehen, den er die ganze Zeit offenhielt, doch seine Sicht war keineswegs die eines Sterblichen. Und nun ›sah‹ er eine Finsternis unten auf dem Hang, und die Finsternis nahm die Gestalt eines großen und schönen Mannes mit schwarzem Haar und schwarzen Augen an, der in einen schwarzen Umhang gehüllt war, der ihn geflügelt erscheinen ließ, wie ein Adler.
    Niemals zuvor hatte irgend etwas Haß ausfindig gemacht, seine Zitadelle erreicht und ihn angeblickt. Und Haß spürte in der Gestalt unter ihm ein machtvolles Übelwollen, vergleichbar seinem eigenen, doch unmerklich verschieden davon, ein Festmahl an Übel, an dem Haß sich weder laben noch irgendeinen Einfluß darauf ausüben konnte.
    Da fing Haß an zu sprechen. Das heißt, er nahm Verbindung auf. Seine Stimme war eine Art Geruch, wie Schlacke von einem Vulkan, und die Sprache, die er benutzte, glich einem Spannungsstoß, einem Zwicken in den Gelenken, dem unangenehmen Reizen der Nerven, einem Schmerz, der nicht richtig schmerzte.
    »Ich kam aus dem Gehirn eines Mannes«, sagte Haß. »Das war mein Anfang. Obwohl ich ihn vergessen habe: seine menschliche Rachsucht war mein Vater. Aber du bist kein Mensch. Warum bist du hier? Was willst du?«
    Die Gestalt am Hang, Asrharn, antwortete nicht, sondern begann statt dessen zur Zinne hinaufzusteigen, über der die runden, braunen Lippen auszumachen waren. Er kletterte durch einen stumpf glänzenden Wolkenring, dann durch einen zweiten. Die Zinne selbst war eine Spitze aus nacktem grauen Fels. Hier hielt Asrharn schließlich inne.
    »Es gibt eine Menge Bosheit in dir«, sagten die Lippen des Hasses, und sie sabberten ein bißchen. »Ich würde dich verschlingen, wenn ich könnte. Schließe einen Handel mit mir ab. Gib mir deine Bösartigkeit, und du sollst Herrscher über die Welt sein in ihren letzten stürmischen Tagen.«
    Aber Asrharn setzte sich auf die Felszinne und sagte nichts.
    »Du hast viele erschlagen«, flüsterte der Mund des Hasses gierig. »Erschlage noch mehr. Ich will dir eine ganze Armee zum Abschlachten geben: sie werden schreiend auf dich zulaufen, und ihre Zähne werden im roten Mondlicht glitzern, und du wirst deine Arme ausstrecken, und sie werden ihr Leben aushauchen, und ich werde mich an ihnen laben. Komm, ich werde eine schöne Frau für dich finden, und du wirst mit einem juwelenbesetzten Messer ihr Perlenfleisch aufschlitzen und Rubine finden unter ihrer Haut. Ich kenne ein Gewölbe, in dem Menschen einen wunderschönen Jungen lebendig eingemauert haben; ich will ihn dir zeigen. Seine Haut ist wie Alabaster, und sein Haar gleicht vergossenem weißen Wein. Im Norden der Welt ist eine große Menge von Bergen aufgebrochen. Das Magma fließt wie goldene Schlangen über die an ihren Füßen liegenden Städte. Im Süden überrennen die Meere das Land wie silberne Hunde. Komm, ich will dir ein Meer und einen Berg schenken. Komm!«
    Asrharn sagte nichts, sondern zog eine Flöte aus feiner Bronze aus seinem Ärmel und begann darauf zu spielen. Als die Musik ertönte, fingen die Wolken, die um die Berge lagerten, an aufzubrechen, und bald darauf ballten sie sich zu Wolkengestalten zusammen, die sich zum Rhythmus der Flöte umrankten und tanzten. Und der nackte Fels des Bergs summte und vibrierte sacht, als ob seine Knochen ebenfalls tanzten.
    Der braune Mund des Hasses war trocken.
    »Behandle mich nicht dergleichen«, sagte Haß, »denn darin liegt kein Nutzen.«
    Darauf nahm Asrharn eine kleine Silberschachtel aus seinem Umhang und verstreute daraus ein glitzerndes Pulver, und es breitete sich wundervoll süßer Duft aus.
    Der braune Mund des Hasses zuckte.
    »Ah, tu das nicht«, sagte er, »diese Dinge beleidigen mich. Du bist nicht sanft von Natur, denn ich glaube, daß du ein Dämon bist. Ja, ich bin sicher, du bist ein Dämon. Komm, sei ein
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