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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht
Autoren: Tanith Lee
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unerreichbaren Bergen den Rücken und ging über die blaue, kalte Oberwelt zurück, und er kam zu dem Brunnen der Unsterblichkeit und spie hinein. Und von solcher Art war Asrharn, daß das bleierne Wasser sich trübte und für einen Augenblick klar und hell wurde, bevor das Grau wieder die Oberhand gewann. Aber die Wächter dösten auf ihrer Bank, und Asrharn bestieg das geflügelte Schiff und ließ die Oberwelt hinter sich.
6
Sonne und Wind
    Der Dämon stand am flachsbewachsenen Ufer des Schlafflusses, vor ihm eilte sein schweres, eisernes Wasser mit grollendem Ton vorbei, hinter ihm lag das geflügelte Schiff wie ein toter Schwan. Das Herz einer Finsternis kann nicht noch finsterer werden. Doch im Wesen Asrharns hatte immer ein dunkles Feuer gebrannt, das jetzt erloschen war. Und sein Gesicht war bitter und schrecklich, als er in schiere Furcht gehüllt am Flußufer stand. Hier, wo er so oft mitleidlos die Seelen von schlafenden Menschen gejagt hatte, jagten nun fremdartige Wahngebilde das innere Wesen Asrharns.
    Und als er dort vor sich hin brütete, entstieg dem Wasser ein halbdurchsichtiges Bildnis wie von hauchdünnem Elfenbein. Es war nicht die Seele eines schlafenden Menschen, denn nur wenige schliefen in jenen furchterregenden Tagen des völligen Umsturzes tief genug, um ihre Seele so weit wandern zu lassen. Nein, dies war die Seele eines Toten.
    Asrharn starrte die Seele an, und die Seele ihn. Die Augen der Seele waren zwei Bruchstücke eines Abends, das Haar war von Bernstein, und an seinen Handgelenken und auf seinen Schultern hing Tang aus der tiefsten See.
    »Kennst du mich, mein Gebieter aller Gebieter?« fragte die Seele, »oder vergißt du mich ebenso leicht wie du mich erschlagen hast? Ich bin Sivesch, der in der grünen See des Morgens ertrank, weil du mich haßtest, der ich dir nur Liebe gegeben habe. Meine Knochen sind auf dem Grund jenes Meeres vermodert, aber ich verweilte in dieser Parodie meiner menschlichen Gestalt, denn selbst am formlosen Tor des Lebens liebte ich dich noch, der du mich abgelehnt und zerstört hast, und meine Liebe hat mich an die Welt gebunden.«
    Asrharn sah die Seele seines toten Geliebten an, und was er dachte, weiß niemand, aber er sagte: »Viele tausend Jahre der Sterblichen sind verflossen, seit ich mich von dir getrennt habe. Warum kommst du jetzt zu mir?«
    »Die Welt geht ihrem Ende entgegen«, sagte die Seele. »Aber von allen Dingen ist es die Welt, die du liebst. Ich bin gekommen, um zu sehen, ob du die Welt retten wirst oder sterben läßt. Denn im Tod der Welt liegt der Tod Asrharns. Selbst wenn du zweimillionenmal eine Million Jahre leben solltest, so bist du doch tot ohne die Erde, und du wirst wandern wie ich, und du wirst so tot sein wie ich und ohne Daseinszweck.«
    Dann trieb die Seele ganz nahe heran, und durch ihren Körper konnte man das jenseitige Ufer und den vorbeigrollenden dunklen Fluß sehen. Und sie küßte die Hand Asrharns, aber ihre Berührung war bloß wie die Berührung von kühlem Rauch. Sie schwand dahin wie Eis in der Sonne.
    *
    Haß lag auf der Erde, drang in ihre tiefsten Höhlen, ihre abgelegensten Täler. Haß vergewaltigte die Erde, und die Kinder von Haß sprossen hervor. Und Haß, der letztendliche Sieger, hatte schließlich eine Form angenommen, eine Form wie ein riesiger Kopf, oder eher wie ein Mund. Kein Mensch war in der Lage, diese Erscheinung, die ihn verschlang, wahrzunehmen. Doch kein Mensch, selbst wenn er das Elend entziffert und Haß als seine Wurzel entdeckt haben mochte, hätte gegen ihn antreten können wie ein Held sich einem Drachen entgegenstellen würde, denn kein Mensch hätte seine Gegenwart ertragen können. Denn bei all der kleinen Bösartigkeit in den Menschen, in der Nachbarschaft dieser geballten Bosheit würde der tapferste oder der übelste unter ihnen schwanken, verbrennen, vergehen.
    Nur einer konnte diesem Wesen begegnen, das Qebbas Haß gewesen war, nur einer konnte es sehen, riechen, finden oder sich mit ihm messen. Denn Haß war für Asrharn stets eine vertraute, eine schöne Harfe gewesen, die er zu spielen verstand, eine Kunstfertigkeit, ein Scherz.
    Wo sich der Kern des Hasses befand, nachdem er diese Form angenommen hatte, daran kann sich niemand erinnern, noch kann man es niederschreiben, so wenig wie man Wasser kauen kann. Es war vermutlich irgendein halb-abstrakter Ort, weder innerhalb noch außerhalb der Welt. In jedem Fall, die Landschaft glich in etwa der Landschaft der Erde, ein
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