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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht
Autoren: Tanith Lee
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Dämon, sei grausam und mach mir Freude! Ich kann dir nichts antun. Wir sollten Partner sein, du und ich. Denn vor sehr langer Zeit hast du den Samen gelegt, aus dem ich entstanden bin.«
    Aber Asrharn nahm aus seinem Gürtel eine einzelne Blume, die er noch auf der Erde wachsend gefunden hatte. Sie war blaupurpurn, der Farbton, den die Weisen einst als die Farbe der Liebe einstuften, und als Asrharn sie auf die nackte Zinne des Berges setzte, versenkte die Blume ihre Wurzeln in den wenig verheißenden Felsen, und in der nächsten Minute war sie zu einem wunderschönen Baum emporgeschossen, dessen Blütenzweige den niederen Himmel berührten.
    »Nun«, sagte der braune Mund des Hasses, während er sich leicht zurückzog, denn die Farbe und der Geruch der Blumen verursachten ihm Übelkeit, »du legst ein schlechtes Benehmen an den Tag, mein dämonischer Besucher. Aber ich werde dich nicht mehr lange ertragen müssen. Sieh nach Osten, und du wirst bemerken, daß du bald gehen mußt.«
    Asrharn wandte sich um und sah in die Richtung, die der Mund genannt hatte.
    Dort hatte ein einzelnes trübgelbes Schwert den aufgequollenen Dunst durchstoßen: das erste Anzeichen der Morgendämmerung.
    Kein Dämon konnte oberhalb der Erdoberfläche verweilen, sobald dort die Sonne erschien, das war wohlbekannt, und selbst Haß wußte es.
    Asrharn hatte die Bronzeflöte und das Silberkästchen beiseitegelegt und lehnte mit dem Rücken an dem blühenden Baum.
    »Du hast viel gesprochen«, flüsterte Asrharn, »nun bin ich an der Reihe. Niemand außer mir konnte dir begegnen, denn wer erinnert sich nicht an die Kunst, die Weisheit der Dämonen? Niemand außer mir, mein abscheulicher Gefährte, konnte dich zerstören.«
    Darauf öffnete Haß seine braunen Lippen weit und ließ die Höhle sehen, die hinter ihnen gähnte, ein ungeheurer Schlund ohne Zähne oder Zunge oder Kehle, eine Grube, die niemals gefüllt werden könnte.
    »Zerstörung ist mein Vorrecht«, sagte Haß. Dann zogen sich seine Lippen wieder zusammen, und er sagte: »Das Licht wird stärker. Du solltest jetzt besser gehen.«
    Aber Asrharn machte es sich bequem und lehnte sich an den Baum, als ob er auf Seidenkissen säße. Und er sah sich das Glühen im Osten an, wo sich jetzt zwei rosarote Schwerter zu beiden Seiten des Gelbs erhoben hatten. Und Asrharns Augen waren halb geschlossen, als er dort hinblickte, und er lächelte, doch seine Lippen waren weiß.
    Der Mund im Himmel wurde plötzlich ebenfalls blaß, eine häßliche Blässe wie von einer Krankheit.
    »Komm«, sagte er, »du solltest gehen. Ein Dämon darf sich nicht der Sonne aussetzen.«
    Aber Asrharn bewegte sich nicht, und nun waren es zehn Schwerter im Osten, sieben aus Silber und drei aus Gold.
    »Ach, das ist närrisch«, sagte Haß zitternd, »du spielst die Rolle des symbolischen Selbstopfers – aber was bedeutet dir die Welt? Laß die Welt fahren! Es wird andere geben. Sieh, wie hell der Himmel wird. Du hast nur noch einen Augenblick oder so übrig. Wenn die Sonne erst einmal aufgeht – stell dir das nur einmal vor! Die Todesqual dieses Lichts, dieses Licht, das die Wesen des Dämonenlandes zum Schwinden bringt und seine Bewohner in Staub verwandelt. O Asrharn, Asrharn!« heulte der Mund des Hasses, als er ihn plötzlich erkannte, während er bebte und sich zusammenzog, was die Wolken in wirbelnde Bewegung versetzte und die Felsklippen poltern ließ. »Nichts ist solch einen Schmerz wert. Lauf, Asrharn! Flieg, Asrharn! Die Unterwelt ist kühl und schattig. Du kannst die Erde nicht so sehr lieben, daß du dein ewiges Leben für sie opfern willst.«
    Im Osten waren inzwischen zwanzig Schwerter erschienen; fünf waren silbern, zwölf waren golden, drei waren von weißem Stahl. Asrharn erhob sich und stand unter dem Baum. Der ganze Himmel und das Land umher wurden von den Zuckungen des Hasses erschüttert, als er darum kämpfte, ihn fortzubewegen. Aber Asrharn war bewegungslos, wie es der Felsen und der Himmel gewesen waren. Er starrte direkt in die Richtung der Sonne, wie es der Adler heute noch in Erinnerung an jenes Starren tut.
    Jedes der Schwerter war jetzt weiß, und darunter befand sich der Rand einer Blässe, die nicht aus Weiß bestand sondern aus Blindheit: Schwarz. Die Sonne ging auf.
    Zwei dünne Nägel durchbohrten die Augen Asrharns, zwei weitere seine Brust und drei seine Lenden. Dunkelglühendes Blut rann aus seinen Mundwinkeln und seinen Nasenlöchern und aus seinen Fingerspitzen. Er
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