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Herr der Nacht

Herr der Nacht

Titel: Herr der Nacht
Autoren: Tanith Lee
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»Asrharn ist tot! Asrharn ist tot!« Und sie streuten schwarze Blüten aus und kratzten mit Stacheln aus schwarzem Stahl an die Türen.
    Die Hunde begannen zu heulen, und die Nachtigall verstummte.
    Die Leute sagten: »Wer ist das, von dem sie sprechen? Asrharn ist ein Name, den wir nicht kennen. Aber gewiß muß er ein großer Herrscher oder König gewesen sein, da er auf solche Weise betrauert wird.« Und sie verbeugten sich ehrerbietig vor den Vazdru und boten ihnen Wein oder Geld an, da sie nicht wußten, daß es sich um Dämonen handelte. Und die Vazdru hatten kein Herz für Bosheiten, da ihr Prinz tot war, und sie verschwanden weinend in der Dunkelheit.
    Unter ihnen war eine Eschva-Frau, die in der Nacht auf die Erde kam, aber sie kam weniger laut. Es war niemand anderes als Jaseve, die Dämonin, die Asrharn zu Dresaems Erquickung aus dem Krug gegossen hatte. In ihrem Haar wuchsen keine Schlüsselblumen mehr, die Silberschlangen wohnten wieder darin. Ihre Augen waren trocken, denn sie hatte unablässig an einen wundersamen Ort gedacht, halb in der Welt, halb außerhalb davon, wo ein Baum mit blau-purpurnen Blüten auf einer kahlen Bergspitze wuchs.
    Diesen suchte Jaseve lange Zeit, mehrere Jahre lang. Sie ging zu den vier Ecken der Welt und kehrte wieder zurück. Schließlich fand sie den wundersamen Ort und den Weg zu ihm. Sie ging zu der Stelle, wo Haß gestorben war: nicht mehr über Berge, denn sie waren eingestürzt, nicht mehr durch einen verkohlten Wald, denn er hatte neue Blätter getrieben, indem er die fruchtbare Welt nachgeahmt hatte. Der Mond war aufgegangen. Er offenbarte eine schreckliche Narbe am Himmel selbst, runzelig und glänzend: Die Wunde, wo der Mund von Haß aus ihm herausgerissen worden war. Unter dieser Wunde stand ein Baum wie in Jaseves Traum, obwohl seine Blätter jetzt nicht mehr den Farbton der Liebe besaßen, sondern grau waren wie Asche.
    Jaseve rannte zu dem Baum. Sie küßte seinen schmalen Stamm und grub im Schutt des Berges, um ihn freizulegen. Ihre Hände bluteten, und ihr Blut tropfte auf die Wurzeln, und sie schienen sich ihr entgegenzustrecken. Dann war er freigegraben, und Jaseve zog ihn aus den Steinen und nahm ihn auf den Rücken, denn er wog sehr wenig. Sie trug den Baum von jenem Ort zur Erde, doch dort mußte sie ihn absetzen, denn sie war müde. Sofort schlug der Baum in dem fruchtbaren Boden Wurzeln. Jaseve wurde gewahr, daß sie und der Baum sich in einem Wald befanden, einem großen, dichten und uralten Wald, welcher der Umwälzung der Erde entronnen war. Hier konnte kein winziges Fleckchen Sonnenlicht eindringen, nicht einmal am Mittag, so dicht waren die Zweige oben ineinander verknotet und so sehr häuften sich die Baumstämme im Umkreis wie Schildwachen. Jaseve sah es und lächelte träumerisch. Sie legte sich neben dem Baum nieder und streichelte seine graue Rinde.
    *
    Am Rande des alten Waldes führte eine Landstraße vorbei, und neben der Straße lag ein Bauernhof mit vielen Feldern, Obstgärten und Weinhängen.
    Der Bauer hatte sieben Töchter, von denen die jüngste vierzehn und die älteste zwanzig Jahre alt war, denn jede war ein Jahr nach der andern auf die Welt gekommen, und obwohl alle sieben lieblich waren, waren alle sieben Jungfrauen, denn dies war ein Zeitalter der Unschuld. Sie ermangelten jedoch der mütterlich führenden Hand, da die Mutter gestorben war, was wenig wunder nimmt. Von der ältesten abwärts waren ihre Namen die folgenden: Fleet, Flame, Foam, Fan, Fountain, Favour und Fair.
    Nun waren diese sieben Schwestern, da sie der Führung einer Mutter ermangelten, nicht so bescheiden, wie sie vielleicht hätten sein sollen. Ihr Vater, der ein plumper, gefühlloser Mann war, stattete seine Mädchen nicht in der Art und Weise aus, wie sie es gerne gehabt hätten, während in der nahegelegenen Stadt ein schlauer Seidenhändler wohnte, der zu jeder von ihnen bei dieser oder jener Gelegenheit gesagt hatte: »Deine Magnolienhaut würde weit besser in einem Seidenkleid zur Geltung kommen, als in diesem selbstgesponnenen. Komm zu mir in der Nacht, und ich will sehen, was sich machen läßt.« Keines der sieben Mädchen war bisher zu ihm gegangen. Sie wollten es nicht tun, denn sie hatten bemerkt, daß seine fetten gelben Finger die Tendenz hatten, ebensoviel über sie zu wandern wie über seine Seidenballen, ja, die Jüngste erklärte sogar, sie habe gesehen, daß er ein Tier in seinen Beinkleidern berge, das sich in einer höchst merkwürdigen
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