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Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge

Titel: Herr aller Dinge - Eschbach, A: Herr aller Dinge
Autoren: Andreas Eschbach
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es auch in der Nacht, in der er das Mädchen zum ersten Mal sah.
    Es regnete. Leiser, silberner Regen fiel vom Himmel und schimmerte im Licht des Mondes und der Stadt wie ein magischer Vorhang. In der Wohnung roch es nach Misosuppe, die es am Abend gegeben hatte, und nach der Wäsche, die an einer Leine quer durchs Zimmer gespannt war und nicht trocknen wollte. Hiroshi konnte nicht schlafen.
    Er stand auf und streckte die Hand aus dem Fenster, um zu fühlen, ob es wenigstens ein bisschen weiter draußen kühler zu werden begann. Tat es nicht. So blieb er eine Weile stehen, sah auf den großen, dunklen Garten der Botschaft hinunter und wusste nicht, ob er müde war oder wach. Schließlich legte er sich wieder hin, weil es sonst nichts zu tun gab.
    Als er das dritte Mal aufstand, um hinauszuschauen, stand mitten im Garten ein Mädchen.
    Sie stand einfach da, die Arme weit ausgebreitet, und schaute zum Himmel hinauf. Sie hatte langes schwarzes Haar, das ihr den Rücken hinabfiel. Sie trug nur ein Nachthemd, und das klebte ihr völlig durchweicht am Körper.
    Hiroshi kniff die Augen zu, zählte bis zehn und machte sie wieder auf.
    Das Mädchen stand immer noch da unten, mitten auf dem Rasen. Sie wiegte sich hin und her, ganz langsam und verträumt, während der warme Regen auf sie herabprasselte.
    Hatte er einen Laut der Überraschung von sich gegeben? Hiroshi wusste es nicht, aber jedenfalls hörte er die Schiebetür gehen, und seine Mutter kam herein. »Was ist?«, fragte sie. »Du sollst schlafen.«
    »Da ist ein Mädchen im Garten«, sagte Hiroshi.
    Mutter schlurfte ans große Fenster, besah sich das Schauspiel eine Weile schweigend und meinte schließlich: »So fängt das also an. Dass reiche Leute irgendwann verrückt werden.«
    »Wieso tut sie das?«, fragte Hiroshi.
    »Es ist ein neuer Botschafter angekommen. Das ist vielleicht seine Tochter. Jemand hat so was gesagt, dass er eine Tochter hat.«
    »Sie ist ganz nass.«
    »Geh schlafen«, sagte Mutter.
    »Ich kann nicht. Es ist so warm.«
    »Du musst aber schlafen, sonst fallen dir morgen in der Schule die Augen zu. Leg dich wenigstens hin und ruh dich aus.«
    Hiroshi rührte sich nicht von der Stelle, so wenig wie das Mädchen. Es sah aus, als bete es den Mond an. Oder als warte es, dass etwas vom Himmel fiel, das es umarmen konnte. »Was ist mit ihr? Sie muss doch auch in die Schule.«
    »Was geht dich an, was sie macht?« Jetzt klang Mutter ungehalten. »Das sind reiche Leute. Mit denen haben Leute wie wir nichts zu schaffen.«
    »Wieso sind die reich?«
    »Sie sind es eben. Schlaf jetzt«, sagte Mutter und ging wieder.
    Das schien das größte Problem der Welt zu sein: dass es Leute gab, die reich waren, und andere, die es nicht waren. Mutter sprach oft davon.
    In diesem Moment ließ das Mädchen die Arme sinken. Sie blickte zum Haus zurück, und es sah aus, als würde sie von dort gerufen. Durch das Rauschen des Regens hörte Hiroshi nichts, aber er sah, wie sie sich in Bewegung setzte, widerwillig, und wie sie mit nackten Füßen durch das Gras auf eine offene Tür zuging.
    Hiroshi wartete, bis sie verschwunden war, dann legte er sich hin. Diesmal schlief er endlich ein, und natürlich träumte er von ihr.
    Von da an lag er auf der Lauer. Jeden Nachmittag beeilte er sich, von der Schule nach Hause zu kommen und seinen Beobachtungsplatz am Fenster einzunehmen. Er gewöhnte es sich an, hier seine Schularbeiten zu machen, und am liebsten hätte er auch am Fenster gegessen, aber das erlaubte seine Mutter nicht.
    »Was soll das?«, schimpfte sie. »Was machst du da?«
    »Nichts«, sagte Hiroshi, und in gewisser Weise stimmte das sogar: Die meiste Zeit schaute er nur in den Garten der Botschaft hinunter und wartete. Er hätte nicht einmal sagen können, worauf eigentlich. Auf das Mädchen, klar. Aber warum? Was erhoffte er sich davon, sie noch einmal zu sehen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht anders konnte, als am Fenster auszuharren, obwohl er nicht mehr zu sehen bekam als ab und zu einen hellen Fleck hinter einer Scheibe, der ein Gesicht sein mochte oder auch nicht, und ab und zu einen Schatten, eine Bewegung.
    Das Problem war, dass man von der Wohnung aus nur einen ganz kleinen Teil des Gartens einsehen konnte. Hiroshi wusste, dass der Garten sehr groß war, aber die Gebäude darum herum und die vielen Pflanzen versperrten einem die Sicht. Zum Beispielwusste er, dass mitten in dem Garten der Botschaft ein Swimmingpool lag, doch durch die Bäume
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