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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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hinabgestoßen hatte, unsicher, ob sein Plan wirklich aufgegangen war? Ich lauschte. Auf ein Geräusch, das über die Brandung hinausging, die gegen die Felsen donnerte, auf einen Motor, der angelassen wurde, irgendetwas. Aber da war nichts. Hier auf diesem Adlerhorst hoch über dem Meer gab es nichts als die Präsenz der Wellen und die salzige Brise, die hin und wieder mein Gesicht streifte. Und die Dunkelheit. Selbst wenn ein Motor angelassen worden wäre, hätte ich ihn hier wohl kaum hören können. Ich dachte kurz daran, was jetzt werden würde, ob mich jemand finden würde, hier, doch ich schob den Gedanken gleich wieder beiseite. Darüber würde ich später nachdenken. Jetzt war ich erst einmal dankbar, am Leben zu sein. Dankbar über diesen kleinen Vorsprung und die Tatsache, dass Prohacek mich genau an dieser Stelle hinabgestoßen hatte und nicht einen halben Meter weiter rechts oder links. Jemand hatte seine schützende Hand über mich gehalten.
     
    Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, diese Nacht zu überstehen. Ich weiß nur noch, dass ich mich an den Ästen des kleinen Baumes festkrallte und Stunden später in eine Art Dämmerzustand sank, aus dem ich hin und wieder erwachte, nurum mich zu vergewissern, dass ich mich nach wie vor festhielt und dass – weit unter mir – die Wellen ihr ewiges Spiel mit den Felsen spielten.
    Noch heute denke ich bei dem Geräusch manchmal an die Nacht im Adlerhorst zurück und an die gnädige Dunkelheit, die mich die ganze Nacht über einhüllte und erst am Morgen den Blick freigab auf eine Aussicht, die ich lieber nicht gehabt hätte. Denn als die Dämmerung die Konturen schärfte und das Grau von Farben verdrängt wurde, sah ich, wie winzig der Vorsprung war, auf dem ich kauerte. Und irgendwann kam die Angst. Was, wenn mich niemand finden würde, auf meinem Aussichtsbalkon mit Meerblick, was, wenn ich irgendwann nicht mehr die Kraft hätte, mich festzuhalten? Und wer sollte mich hier schon finden? Ich begann zu rufen, zu schreien, merkte aber bald, dass meine Stimme vom Donnern der Brandung verschluckt wurde, dass sie nicht mehr als ein dünnes Klagen war, und selbst wenn dort oben, unmittelbar über mir, jemand gestanden hätte, hätte dieser Jemand sicher nichts vernommen. Oder doch? Die Hoffnung, heißt es, stirbt zuletzt. Und da ich bisher überlebt hatte und mich auf keinen Fall kampflos ergeben wollte, rief ich in regelmäßigen Abständen um Hilfe.
     
    Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich auf dem Felsvorsprung ausharrte. Die Sonne brannte, der Wind zerrte an meinem Haar, trocknete meine Haut, doch ich merkte von alledem wenig, denn es ging für mich nur darum, nicht nach unten zu sehen, um nicht vor Angst verrückt zu werden.
    Und irgendwann sah ich sie dann. Im ersten Moment glaubte ich, einer Fata Morgana erlegen zu sein. Drei Köpfe, die über mir auftauchten, an der Stelle, von der aus ich gestürzt war. Ich lag auf der Seite, an mein Bäumchen geklammert, blinzelte in den Himmel und brach, als ich sie erblickte, zunächst in ein irres Kichern aus, weil ich glaubte, langsam den Verstand zu verlieren. Im Nachhinein betrachtet denke ich,dass diese Reaktion ganz natürlich war, denn die Szene hatte etwas derart Unwahrscheinliches, dass sie Teil eines Märchens zu sein schien. Und noch heute packt mich manchmal dasselbe irre Lachen, wenn ich an ihre Gesichter denke und wie sie Ausschau nach mir hielten: Wolf, Erna und Roman.
    Der Rest ist rasch erzählt. Auch sie glaubten wohl, ihren Augen nicht trauen zu können. Wie sie mich dort kauern sahen, in Embryohaltung an mein Bäumchen geklammert. Und dann lief Wolf zum Wagen und holte das Klettergeschirr, das er sich in Tölz für seine neue Leidenschaft – die Berge und die Biene – zugelegt hatte und das nun meinen Aufenthalt auf dieser unfreiwillig gewählten Aussichtsplattform beenden sollte. Irgendwie schaffte er es, sich an einem Seil zu mir herunterzulassen und mich unversehrt in dieses Klettergeschirr einzufädeln, das Roman dann mit der Hilfe eines Baumes hinaufzog.
     
    Nach unserem letzten Gespräch und Prohaceks Behauptungen, mit denen ich Erna konfrontiert hatte, war sie zunächst völlig am Ende gewesen. Durch Zufall war sie dann mit der Bäckerin von gegenüber ins Gespräch gekommen und hatte erfahren, dass ich nach Ligurien reisen wollte. Einige Tage später hatte sie sich wieder so weit gefasst, dass sie sich einer »Gegenüberstellung« mit Prohacek gewachsen fühlte. Sie wollte ihn zur
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