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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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und sogar das verkniffene Gesicht der Frau Edelmann. Sartorius. Ich sah die Kinder in Zweierreihen Hand in Hand den Weg entlanggehen. Und ich sah mich vor mir, wie ich den weißen Korbkinderwagen durch den Park von Hohehorst schob, das Federbett, das so dick war, dass es sich wölbte. Und wie ich mich über den Wagen beugte und über dein Köpfchen strich. Dein Haar daunenweich unter meinen Fingerspitzen. Aber sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte deinGesicht nicht sehen. Es blieb ein weißer Fleck. Ich hatte dein Bild verloren. Die Jahre haben deine Spur verwischt. Und alles, was mir von dir geblieben ist, ist ein kleines Foto, auf dem wir beide zu sehen sind. Du und ich in Hohehorst. Und der Schmerz, wenn ich es betrachte.

 
    Wie reife Trauben hängen die Glyzinien über meinem Kopf und verbreiten einen betörenden Duft. Ich denke daran, wie Charlotte sie geliebt hat.
    Ich bin dabei, mich mit Mutter auszusöhnen. Und mit dem, was Oma getan hat. Seit jenem Tag, als die drei Musketiere mich gerettet haben, ist nun ein Monat vergangen. Und ich habe das Buch der Emmi Quandt, Omas Buch, wohl an die zehnmal gelesen und immer wieder neue Details entdeckt. Das Lesen hilft mir. Es verleiht mir die Illusion, Oma nahe zu sein. Es ist, als spräche sie zu mir. Und erst jetzt beginne ich zu begreifen, was es mit der »Gnade der späten Geburt« auf sich hat – bisher war dieser Begriff für mich nichts als ein historisches Konzept. Doch nun frage ich mich, was
ich
wohl getan hätte damals. Oder nicht getan.
    Und bestimmt zum tausendsten Mal frage ich mich, wie alles wohl gekommen wäre, wenn Oma es uns einfach erzählt hätte. Oder wenn sie uns das Buch zu Lebzeiten gegeben hätte. Sicher, ich wäre erschüttert gewesen, schockiert, aber ich denke, ich hätte sie angenommen, ihre Schuld, und ich hätte mit ihr darüber reden können. Das ist das Ärgste. Dass ich sie jetzt nichts mehr fragen kann. Dass all das Unbeantwortete, das in meinem Inneren brennt, für immer offen bleiben wird.
     
    Einen Tag, nachdem man im Krankenhaus von Imperia meine Schürfwunden und den Erschöpfungszustand behandelt hatte, wurde Dr.   Prohacek von der Wiener Polizei festgenommen. Er war noch im Besitz der Liste, die er aus der
Casa dei Glicini
entwendet hatte, während ich im Kofferraum seines Wagensschmorte. In seiner Wohnung wurden dann die restlichen Unterlagen gefunden: die aus Omas Buch herausgerissenen letzten Seiten, die Originale der Vaterschaftsanerkennung und der Versuchsprotokolle, außerdem auch Mutters Adressbuch. Zwei Tage nach seiner Festnahme habe ich mich entschlossen, vorerst in der Casa zu bleiben und den Frühling unter dem Blauregen zu verbringen.
    Wolf und Roman sind abgereist. Ich konnte und wollte es ihnen nicht sagen, ich bin noch nicht so weit. Ich weiß auch noch nicht, was ich nun tun werde, ich weiß nur, dass ich ein Kind erwarte und dieses Kind auch bekommen werde.
    »Willst du ein oder zwei Brote?«, ruft Erna aus der Küche und ich lächle vor mich hin.
    »Eines«, rufe ich zurück.
    »Dann mach ich dir zwei«, tönt es erneut.
    Wenig später kommt sie auf die Terrasse, ein Tablett vor sich herbalancierend, auf dem frisch gepresster Orangensaft, Obstsalat, Tee und belegte Brote zu sehen sind.
    Erna. Auch sie hat sich auf meine Bitte hin dazu entschlossen, erst mal hierzubleiben. Und sich um mich zu kümmern. Es ist fast ein wenig so wie damals, als Oma noch lebte und mich versorgt und bekocht hat. Als ich mich sorglos fühlte und geborgen. Ich vermisse nichts.
    Hin und wieder allerdings sagt Erna: »Das Kind braucht einen Vater. Irgendwann musst du einen Test machen lassen.«
    Ich nicke dann. Und freue mich, dass sich jemand für mich interessiert. Für mich und mein Kind.
    »Das ist nicht nur für das Kind wichtig. Auch für dich. Du brauchst ja nicht gleich mit ihm zusammenzuziehen. Aber denk dran: Du willst doch auch einmal ausgehen. Und was machst du, wenn es mal krank ist oder später dann, wenn es in die Schule kommt   …«
    Ich lache. Erna ist schon viel weiter als ich. Sie lacht nicht, sondern fährt unbeirrt fort: »…   sind da die Elternabende und vielleicht braucht es Hilfe in Mathematik und dann ist es dochgut, wenn ein Vater   … Ich werde ja nun einmal auch nicht jünger, so leid mir das tut.« Und dann seufzt sie, doch in ihren schwarzen Augen funkelt es und man merkt, dass sie es selbst nicht glauben mag, was sie da sagt, sondern damit rechnet, bei bester Gesundheit mindestens 120 zu
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