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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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musste wissen, wo ich war, ich musste versuchen, mich zu erinnern. Doch das einzige Bild, das kommen wollte, war mein Heraustreten aus dem Gebüsch und das Auto. Und da riss der Film.
    Ich zog und zerrte an meinen Fesseln, bewegte mich auf und ab, so gut ich konnte, und geriet darüber so außer Atem, dass ich nur durch die Nase nicht mehr genug Luft bekam. Angst und Panik schwollen an, eine riesenhafte Klaue, die nach mir griff und mich zu ersticken drohte. Einen Moment lang war ich überzeugt, nun sterben zu müssen, doch schließlich gelang es mir, meinen Atemrhythmus wieder zu beruhigen. Aus und ein, aus und ein. Erst dann wurde mir bewusst, wo ich mich befinden musste: Jemand hatte mich in den Kofferraum des Wagens gesperrt.
    Nach und nach ließ das Gefühl der Betäubung nach, mein Verstand klarte auf, was jedoch nicht unbedingt dazu beitrug, dass ich mich besser fühlte. Im Gegenteil. Je klarer ich wurde, desto klarer drängten sich verstörende Fragen in den Mittelpunkt: Was würde mit mir geschehen? Was hatte die Person mit mir vor? Warum hatte sie mich nicht gleich getötet? Wasmachte es für einen Sinn, mich zu betäuben – denn das musste unweigerlich mit mir geschehen sein – und in den Kofferraum eines Wagens zu sperren? Und immer wieder die Frage: Wer, wer war aus Wien gekommen, um das zu tun?
    Mein Rücken schmerzte und auch meine Halsmuskulatur, deshalb versuchte ich, irgendwie in eine andere Haltung zu gelangen. Doch sosehr ich mich auch bemühte, die Fesseln waren zu eng, der Raum zu knapp. Also sackte ich nach einigen vergeblichen Versuchen wieder zurück und blieb so liegen, wie ich war, zerschlagen und schlaff. Bis ich erneut eindöste.
     
    Ich erwachte vom Motorengeräusch und Rumpeln eines Zweitakters, der unmittelbar neben mir zum Stehen kam. Kurz darauf ertönte laut und schrill die Hupe eines Lastendreirads. Mit einem Mal war ich hellwach. Ich versuchte zu schreien, und als mir außer einem erstickten »Mhmfm« nichts gelang, warf ich mich hin und her, mit aller Kraft, hoffend, dass wer auch immer da draußen in dem Dreirad saß und hupte, das eigentümliche Schwanken des Wagens bemerken und misstrauisch werden würde. Nach zahlreichen Hupintervallen hörte ich auf einmal Schritte, die sich näherten, ein Italiener sagte: »Managgia, ma non sai parcheggiare, figlio di puttana!« Ich hielt kurz inne und lauschte. Schweiß perlte mir in die Augen. Schritte bewegten sich um den Wagen herum. Und unter Aufbietung meiner restlichen Kraft begann ich erneut, mich wild aufzubäumen, mich hin- und herzuwerfen und erstickte Laute von mir zu geben. Warum sah der Italiener das denn nicht, das Auto musste doch schwanken wie ein Schiff bei Windstärke zwölf! Und dann begann ich, meinen Mund am Boden des Kofferraums zu reiben. Ich musste es schaffen, den Klebestreifen herunterzubekommen.
    Doch schließlich hörte ich, wie jemand etwas rief, wie der Zweitakter Gas gab und wie der Wagen, in dem ich mich befand, angelassen wurde. Völlig außer Atem und so viel Luftwie möglich durch die Nase ansaugend ließ ich das Gesicht wieder auf die Seite sinken. Der Italiener hatte mich nicht bemerkt.
     
    Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als ich aus einer Art Halbdämmerung erwachte, mit einem heftigen Druck auf der Blase. Die Luft im Kofferraum war dumpf, es roch nach Gummi und etwas Undefinierbarem. Wärme erfüllte den Raum. Was, wenn der Wagen hier im August in der prallen Sonne gestanden hätte, überlegte ich mit Grauen. Und dann fiel mir ein, dass ich den nächsten August wahrscheinlich nicht mehr erleben würde. Meine Glieder taten inzwischen so weh, dass ich glaubte, es könnte nicht schlimmer kommen, mein Hals war starr und steif, meine Schultern, mein ganzer Rücken fühlte sich an wie ein einziger klumpiger, dumpfer Schmerz. Und dann ließ ich es einfach laufen. Im ersten Moment spürte ich Erleichterung. Und während sich eine warme Nässe meine Oberschenkel entlang ausbreitete, begann ich zu überlegen, was ich tun könnte, um nicht verrückt zu werden, und dachte mir ein Spiel aus, suchte immer zehn italienische Vokabeln mit »a«, dann mit »b«, und so dem Alphabet nach. Ich begann mit den Substantiven.
Abete , atto , aristocrazia , agente , ammendamento, arroganza…
Meine Neuronen setzten sich in Bewegung und ich war sogar ein wenig erstaunt, wie viel nach all den Jahren ohne Training noch vorhanden war. Bei
cristianesimo
überlegte ich, wie ich es anstellen konnte, meinen verbogenen
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