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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene
Autoren: dtv
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ich mich dem Fenster und spähte hinaus. Ich starrte auf den Kies, eine helle Fläche vor dem Dunkel der Büsche und Bäume, versuchte eine Abweichung im Grau zu entdecken, die Silhouette einer Gestalt, die dort – irgendwo im Schatten – reglos verharrte. Doch hier war nichts zu erkennen. Niemand. Ich tappte zum nächsten Fenster auf der Frontseite des Hauses und auch hier war nichts Außergewöhnliches erkennbar.
    Und so spähte ich aus jedem Fenster, ohne jemanden zu sehen und ohne etwas Verdächtiges zu erblicken. Ratlos kehrte ich ins Schlafzimmer zurück. Vielleicht hatte ich mich getäuscht, vielleicht hatte ich kurz zuvor etwas in der Art geträumt, vielleicht spielte meine überreizte Fantasie mir einen Streich. Vielleicht war er aber auch zurückgekommen, der Mann, der in diesem Haus ermordet worden war, vor über fünfzig Jahren.
    Es war inzwischen kurz vor vier und mir fiel nichts anderes ein, als mich wieder hinzulegen und die Stunden bis zur Dämmerung irgendwie herumzubringen. Wenn erst das Licht wiederkäme, wenn der Morgen die Schatten vertreiben und die Sonne hinter dem Hügel auftauchen würde, würde auch der Geist verschwinden. Ich zwang mich, mir vorzustellen, wie ich im Morgensonnenschein, die Finger um einen Becher Tee geschlungen, vielleicht mit einem Buch in der anderen Hand dasitzen würde, wie die Vögel ihr Morgenlied anstimmen und ich den tiefen Frieden der Landschaft in mir aufnehmen würde. Eine Weile lang half dieser Gedanke und die grünen Hügel unter meinen geschlossenen Lidern begannen mich zu beruhigen, mein Atem hatte fast seinen normalen Rhythmus wiedergefunden. Als ich wieder Schritte hörte, ganz leise, kaum vernehmbar. Mit einem Ruck fuhr ich hoch. Es gab keinen Zweifel mehr. Die Schritte kamen jetzt aus der Diele.
     
    Beide Hände auf den Mund gepresst lauschte ich. Starrte auf meine Schlafzimmertür. In Zeitlupe kletterte ich aus dem Bett,in Zeitlupe und nahezu geräuschlos schlich ich zur Tür und drehte den Schlüssel um. Nicht dass es nun unmöglich gewesen wäre, diese Tür zu öffnen. Doch es würde mir einen kleinen Vorsprung gewähren. Ich überlegte kurz, wo ich mein Handy hingelegt hatte, ließ den Blick durch die grauen Schatten schweifen. Da fiel mir ein, dass ich es wieder in meinen Rucksack gesteckt hatte und dass der in der Diele auf der Garderobe lag. Also kein Telefon und kein Notruf. Die einzige Möglichkeit, die ich hatte, war aus dem Fenster zu steigen und fortzulaufen, mich in das Dickicht des umliegenden Waldes zu schlagen und irgendwie nach San Sebastiano zu gelangen. Hastig zog ich einen Jogginganzug, der auf einem Stuhl neben dem Bett lag, über meinen Pyjama und dachte kurz daran, dass in all den Jahren, in denen Oma die
Casa dei Glicini
besessen hatte, niemals dort eingebrochen worden war. Was gab es hier auch schon zu holen? Ein paar Antiquitäten vielleicht, aber Ligurien war nicht Rom und nicht Neapel und dass hier jemand die Dreistigkeit besaß, mit einem Umzugslaster vorzufahren und alles auszuräumen, war für Ligurien eine eher ungewöhnliche Vorstellung. Und was bekäme man auch schon für die paar Möbel! Nein. Wenn jemand hier etwas von Wert forttragen wollte, dann müsste er schon das Haus selbst, samt Terrasse und Aussicht, mitnehmen. Außer – und daran hatte ich noch gar nicht gedacht – wenn der »Einbrecher« es gar nicht auf irgendwelche Möbel abgesehen hatte. Sondern auf mich. Wenn er
mich
suchte. Fieberhaft folgte ich diesem Gedanken. Aber außer Roman wusste doch niemand, wo ich war. Ich hatte gedacht, dass er weit fort wäre, auf einem anderen Kontinent. Aber er war in Wien gewesen, als er das Päckchen abgeschickt hatte. Einen Augenblick lang war ich von dem Gedanken wie erstarrt. Schließlich gelang es mir, mich zusammenzureißen, und ich stieg betont konzentriert in meine Turnschuhe und huschte zum Fenster. Gerade als ich meine Hand auf den Griff legte, hörte ich, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde. EineWelle von Panik überflutete mich. Am liebsten hätte ich geschrien, wäre laut schreiend in die Nacht hinausgelaufen, aber wer hätte mich hören sollen? Wer außer der Person, die hier vor meiner Schlafzimmertür stand und die Klinke herunterdrückte?
    Fahrig öffnete ich das Fenster und gab mir Mühe, so geräuschlos wie möglich hinaus auf die Terrasse zu steigen. Einen kurzen Moment lang wusste ich nicht, ob ich rechts oder links ums Haus herumgehen sollte, denn von der Terrasse selbst gab es kein
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