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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost
Autoren: Georg Gracher
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Meilerhütte
hinaufzusteigen. Doch es hatte lange gedauert – bis zu diesem Tag.
    Der Weg war stellenweise feucht, die Steine glitschig. Es musste
am Vorabend oder in der Nacht ein Gewitter gegeben haben. Davon war die Luft
gereinigt, er schien sie geradezu schmecken zu können. So eine Luft wie heute,
dachte er, vertreibt alle Müdigkeit aus dem Kopf und dem Körper. Herrlich ist
es, einfach herrlich.
    Manchmal blieb er kurz stehen, um zu schauen oder um nach einem
besonders steilen Wegabschnitt wieder zu Atem zu kommen; um zu sehen, ob jemand
hinter ihm des Weges kam oder ob er damit rechnen musste, dass jemand ihm im
Abstieg begegnete. Nichts. Niemand war zu sehen. Er war allein mit sich. Und er
genoss es.
    Bisweilen hörte er ein Stück weiter oben Steine poltern. Dann
legte er den Kopf in den Nacken, versuchte herauszufinden, woher diese Geräusche
kamen und durch was sie verursacht worden sein konnten. Gründe für solche
Steinrutsche und Steinschläge kannte er genug. Oft waren Gämsen die Auslöser.
Sie stiegen in den unzugänglichsten Bergflanken umher, fanden scheinbar überall
Halt – und brachten bei ihren Sprüngen immer wieder Gesteinssplitter und
manchmal auch größere Brocken ins Rollen. Vor Gämsen, diesen an sich harmlosen
Tieren, musste man sich genau aus diesem Grund in Acht nehmen.
    Bisweilen verursachten Kletterer den Steinschlag, traten bei
ihrem Aufstieg Steine los oder lösten Geröll mit dem Seil, das um Ecken und
Kanten führte. Meistens freilich gab es keine anderen Gründe als die, dass sich
die Berge seit ihrer Entstehung in einem fortschreitenden Verfallszustand
befanden, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte, dass sie längst altersschwach
waren. Sie zerbröckelten und zerbröselten. Eigentlich war das mit bloßen Augen
zu sehen. Doch wer hätte es wahrhaben wollen …
    Dieser Verfall war die Hauptursache dafür, dass einem Bergsteiger
auch auf vermeintlich unschwierigen Wegen bisweilen Steine wie Geschosse um die
Ohren pfiffen.
    Wenn auch noch jung an Jahren, so hatte Mannhardt doch schon
gelernt, die Geräusche der fallenden Steine zu unterscheiden in gefährlich und
ungefährlich. Er hatte gehört, gelesen und für sich herausgefunden, wann er das
Poltern gar nicht weiter zu beachten brauchte, wann es für ihn ohne Risiko war.
Aber er hatte es auch schon erlebt, dass Steine schrill pfeifend aus einer Wand
zu Tal schossen und gar nicht weit von ihm einschlugen. Wenn er dieses Pfeifen
hörte, schaute Mannhardt nicht mehr nach oben. Dann ging er in die Hocke,
machte sich klein und riss den Rucksack über Nacken und Kopf. Und dann wartete
er, bis alles vorbei war, und bisher war immer alles vorbeigegangen, ohne dass
er Schaden genommen hatte. Die Steine hatten ihn immer verschont.
    Im Weitersteigen bemerkte Mannhardt, wie sich das Wetter
veränderte, von Viertelstunde zu Viertelstunde. Der Himmel, anfangs noch von
trübem Blau, zeigte sich jetzt in tiefem Azur. Dafür verloren die Felsflanken
etwas von ihrer Klarheit. Hatte er bei seiner Ankunft im Leutaschtal noch
geglaubt, geradezu jeden Griff, jeden Tritt im Fels der gewaltigen Wände
wahrnehmen zu können, so wurden die Konturen jetzt etwas schwächer. Gleichwohl
waren die Berge, die seinen Anstiegsweg flankierten, auch in diesem Licht
eindrucksvoll und schön.
    Rechter Hand reihte sich die breite Wettersteinwand an die
Wettersteinspitze, dann kam der Musterstein mit seiner Südwand. Und hinterm
Musterstein musste sich irgendwo die Meilerhütte befinden.
    Immer wieder schaute Mannhardt hinauf zu dem langen Gratverlauf
von der Wettersteinspitze zum Musterstein. Wenn das Wetter in den nächsten
Tagen passen würde …
    Er hatte sich vor seiner Abreise mit diesem Grat gar nicht
befasst. Zwar hatte er vor Längerem im Wetterstein-Führer des geradezu
legendären Helmut Pfanzelt gelesen, dass die Anforderungen zwischen dem ersten
und dritten Schwierigkeitsgrad lagen, also auch für einen versierten
Alleingänger beherrschbar waren. Aber der Grat war dennoch nicht sein Ziel
gewesen. Das Seil hatte er dabei, weil er eigentlich vorgehabt hatte, von der
Meilerhütte ins Oberreintal abzusteigen und dort an einem der Felstürme eine
leichte Kletterei zu wagen. Für einen nicht allzu schwierigen Aufstieg hätte es
nicht unbedingt des Seiles bedurft – aber fürs Abseilen, um wieder
herunterzukommen von einem solchen Berg.
    Er beschloss, am Nachmittag auf der Hütte den »Pfanzelt« zu
studieren und sich eingehend vertraut zu machen mit dem
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