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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost
Autoren: Georg Gracher
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geradezu
hemdsärmeliger Frühling. Und jetzt war sie froh, dass sie sich zu dieser Reise
hatte überreden lassen. Die Sonnenstrahlen wärmten ihre Wangen, ihre Nase, die
Ohren, den Hals und auch ihre Hände. Und sie glaubte und hoffte, so den Winter
vergessen zu können.
    Ihr Quartier war eine Jugendherberge inmitten grandios karger
Landschaft. Die Calanques waren ein gefährdetes Waldbrandgebiet – es gab nichts
als Steine, Rosmarin, Steine, wieder Rosmarin und dazu, zwischen Steinen und
Rosmarin, ein paar Pinien, die beim letzten Brand davongekommen waren. Und doch
ging von dieser Mischung aus Kargheit und Größe ein Zauber aus, etwas
Beruhigendes, ja Meditatives.
    In der Jugendherberge »La Fontasse« waren Männer und Frauen in
getrennten Schlafräumen untergebracht, was die Freude bei Marielle und Pablo
ziemlich stark einschränkte. Aber auf die einsamen Nächte folgten Morgen auf
der Terrasse: Frühstück im Freien, im Sonnenschein und mit Blick aufs Meer, das
sich etwa hundert Meter tiefer bis zum fernen Horizont erstreckte. Und auf
diese Morgen vor dem Haus folgten Tage besonderer Erlebnisse: Wanderungen zu
den nahen Buchten, verbummelte Stunden im kleinen Hafen von Cassis, eine
Durchquerung der gesamten Calanques von »La Fontasse« bis an den Stadtrand von
Marseille und, nach Zaudern und Zögern bei Marielle, schließlich das Klettern
in der Bucht En Vau.
    Diese wundervolle, einzigartige, geradezu unglaublich beeindruckende
Bucht! Von »La Fontasse« führte ein guter Weg hinunter; er senkte sich
allmählich hinab in ein Tal, wo das Meer nicht mehr zu sehen, ja nicht einmal
mehr zu ahnen war. Nur Steine und Geröll (und natürlich Rosmarin) zur Rechten
wie zur Linken. Doch dieses Tal wurde zum Canyon; zwischen dem lockeren Gestein
zogen Felsrippen nach oben; für Kletterer vielleicht noch nicht allzu
verlockend, aber doch schon ein Gelände, wo man vorsichtshalber das Seil würde
benützen müssen. Und dann, nach der nächsten Talwindung, mutierte es endgültig
zur Schlucht: steile Felswände ragten aus kleinsplittrigem Gesteinsschutt in
den wolkenlosen Himmel; darunter, dem Wegrand nahe, reckten sich zwanzig bis
vierzig Meter hohe Felsnadeln empor – beliebtes Ziel all jener Kletterer, denen
die Höhe und die Länge einer Tour nicht wichtig waren, die sich begnügten mit
diesen »kleinen« sportlichen Zielen.
    Bevor sie das Meer sahen, hörten sie es: die Mischung aus dem
Geraune, wenn das Wasser über die Kiesel schwappte und sich gleich wieder
zurückzog, und der verspielten Fröhlichkeit der Menschen, wie man sie überall
an Stränden antrifft. Lautes Lachen, enthusiastisches Geplappere und Rufe, die
zwischen den Felsen lauter hallten als anderswo. Und dann standen Marielle und
Pablo in der Bucht, an der wie mit dem Lineal gezogenen Linie zwischen Land und
Wasser. Blau und grün und vollkommen klar war das Meer. Und ein Stück draußen
in dem schmalen Fjord lag ein Segelboot vor Anker.
    Als sie zum ersten Mal hierherkamen, warfen sie ihre Rucksäcke auf
den Strand, setzten sich darauf und inspizierten die kolossalen Felsen, die das
Wasser zu beiden Seiten rahmten. Linker Hand ragte der »Doigt de Dieu« in die
Höhe – »der Finger Gottes«, sagte Marielle. Das rechte Ufer bestand aus einer
kompakten Wand, in der es laut ihrem Führer unzählige Routen gab. Allein die
Namen klangen verlockend Рund durchaus ehrfurchtgebietend: ȃperon des
Américains«, »Voie Super Calanque«, »Voie Hyper Calanque«, »Spécial Boucherie«,
»Voie Hara-Kiri« und »Traversée Gary Hemming«.
    Sie entschieden sich für die leichtere »Voie Calanque« – ein
Kletteranstieg im fünften Schwierigkeitsgrad, vier nicht allzu lange
Seillängen, und um es Marielle noch leichter zu machen, würde Pablo alles
vorsteigen. So hatte sie immer ein straffes Seil von oben, musste keine Angst
haben, konnte sich ganz auf sich und das Klettern konzentrieren und dabei
versuchen, wieder einen Rhythmus zu finden. Und wieder sich selbst zu finden.
    Auf einem Band von etwa einem Meter Breite querten sie von der Bucht
aus ansteigend hinein in die Wand. Zwanzig Meter über dem Wasserspiegel begann
ihre »Voie Calanque« am Stamm eines uralten, zähen, an den Fels geschmiegten
Baumes. Das war der Standplatz. Von da ging es in einer kaminartigen
Verschneidung geradlinig empor; nicht schwierig, für gute Kletterer eigentlich
nur genussvoll.
    Aber der wahre Genuss setzte erst weiter oben ein. Da wurde der Fels
kompakter, glatter und
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