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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost
Autoren: Georg Gracher
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eigentlich unbedeutenden Übergang passierten täglich mehrere hundert
Fahrzeuge; viele der Bewohner des weiten Leutascher Hochtals arbeiteten in
Mittenwald oder Garmisch.
    Der Weiler Lochlehn bestand lediglich aus ein paar Häusern. Das
ganze Hochtal war durch solche winzigen Orte besiedelt. Überhaupt konnte man
leicht die Meinung gewinnen, dass die Menschen, die sich vor Zeiten hier
niedergelassen hatten, möglichst viel Abstand zueinander haben wollten. Die
Leutascher Ortsteile sahen schon auf der Karte aus, als hätte Gott sie einfach
hingeworfen wie eine Handvoll Streusand.
    »Wenn Sie mich da bitte rauslassen«, sagte Mannhardt zum Fahrer,
während er gleich hinter Lochlehn die Karte, die er auf den Knien hatte,
zusammenfaltete. »Hier wäre es gut.«
    »Wo wollen Sie denn eigentlich hin?«, fragte der Fahrer. »Zur
Meilerhütte?«
    Mannhardt nickte. »Zur Meilerhütte und dann weiter«, sagte er und
lächelte. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«
    Er wuchtete den Rucksack vom Rücksitz des Autos und machte sich
auf den Weg, drehte sich allerdings noch einmal um und winkte dem Mann, der ihn
mitgenommen hatte.
    Das Berglental galt als besonders einsam. Lang und auch mühsam
war der Aufstieg zur Meilerhütte. Die wenigen, die diesen Weg nutzten, waren
zumeist Einheimische – daheim im Leutaschtal oder in den nahen Orten Mittenwald
und Seefeld. Werktags wirkte das Berglental oft wie ausgestorben.
    Karl Mannhardt stieg langsam und gleichmäßig bergauf. Der Anfang
des Weges war nicht sehr steil, und er führte ihn zwischen blumenreichen Wiesen
ganz allmählich aus dem von den Bauern bewirtschafteten Gelände heraus. Darüber
tat sich wilde und karge Landschaft auf: ein Tal, das wenig Bäume aufwies, aber
viel Fels; wenig Grün, stattdessen steile, unfruchtbare, faszinierende alpine
Wüste. Als er etwa eine Dreiviertelstunde lang gegangen war, suchte er sich
einen Felsblock, wo er sich setzen und anlehnen konnte, und legte eine Pause
ein. Es war ihm heiß geworden vom Gehen, und er hatte Appetit bekommen auf die
Brotzeit, die er im Rucksack mit sich trug. Er säbelte dünne Scheiben von einem
Stück Hartwurst, schob sich trockenes Brot in den Mund, schälte ein hart
gekochtes Ei, trank aus der Thermosflasche Schwarztee, dem er Zucker und einen
Schuss Rum beigegeben hatte.
    Er hatte den Rastplatz mit Bedacht gewählt: Er wollte nicht nur
sitzen, nicht nur verschnaufen, sich nicht nur stärken. Er wollte auch die
Aussicht genießen, hinab ins Tal und hinüber zu den gegenüberliegenden Bergen.
Schon aus dieser Höhe sah das Tal aus wie die kindlich-künstliche Landschaft
einer Modelleisenbahn. Die Häuser waren geschrumpft, die Straße war ein Strich
geworden, die wenigen Autos darauf wirkten wie Spielzeug.
    Im Osten begrenzten die Arnspitzen das Leutaschtal, und Mannhardt
dachte sich, dass es eigentlich ein seltsamer Bergstock war. Nicht zum
Karwendel gehörig, aber auch losgelöst vom Wetterstein, stand dieses
dreigipfelige Massiv allein zwischen zwei riesigen Gebirgen.
    Er packte auch noch seine Rittersport-Schokolade aus,
Rum-Trauben-Nuss, und brach sich, gleichsam als Nachspeise, ein Stück davon ab.
    Schokolade hatte er immer dabei. Egal, wie voll und wie schwer
sein Rucksack auch war. Schokolade war etwas, worauf er nie verzichtete. Daheim
aß er gar nicht allzu viel davon. Aber auf seinen Bergtouren hatte er geradezu
einen Heißhunger darauf. Und es kam nicht selten vor, dass er am Ende eines
Tages, wenn er auf einer Berghütte angekommen war, gleich als Erstes eine Tafel
Schokolade kaufte und auf einen Sitz verzehrte.
    So saß er nun ein gutes Stück überm Tal, zerbiss die Nussstücke
und ließ die Schokolade auf der Zunge zergehen. Alles war Genuss: die
Schokolade, die Landschaft, der einsame Tag. Und der hatte gerade erst
angefangen für Karl Mannhardt. So viel Schönes hielt dieses Gebirge, hielt
dieser Tag noch für ihn bereit.
    Ein langer Aufstieg lag vor ihm. Ein Aufstieg, wie er ihn mochte:
Mehrere Stunden lang allein sein können in einer Wildnis. Vier Stunden, so
seine Einschätzung, würde er wohl brauchen, um hinaufzugelangen bis zur
Meilerhütte. Sie lag in 2.366 Metern Höhe. Der Platz, an dem sie errichtet
worden war, hatte ihn vor Langem schon begeistert. Mannhardt hatte Fotos von
der Hütte gesehen: wie sie in eine Scharte zwischen steilen Felsflanken
hineingebaut war. Wie ein Adlerhorst war sie ihm erschienen. Und es war ihm
gleich zum festen Entschluss geworden, irgendwann einmal zur
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