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Herbstfrost

Herbstfrost

Titel: Herbstfrost
Autoren: Georg Gracher
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langen Gratweg, der
geradezu einladend im Licht des Vormittags leuchtete. Mit jedem Meter, den er
aufstieg, wurde dieser Grat mehr zur Herausforderung für ihn.
    Das Seil kann ich da auch gut gebrauchen, dachte er. Gewiss gibt
es Stellen, die man besser abseilt als abklettert.
    Zur Linken hin wurde das Berglental – welch niedlicher Name für
diese hochalpine Wildnis, dachte er – von schattigen Nordflanken begrenzt. Vor
allem der fast zweieinhalbtausend Meter hohe Öfelekopf entsandte Kanten und
Kare ins Berglental, ein Gewirr von Fels und Geröll. Durchaus nicht
uninteressant – aber nichts im Vergleich zu Mannhardts Grat.
    Mein Grat, dachte er. Das wird mein Grat. Ich gehe nicht weiter
hinein ins Gebirge, sondern nehme von der Meilerhütte aus den Grat in Angriff.
    Morgen noch nicht. Morgen ausschlafen, dann auf die
Partenkirchener Dreitorspitze und wieder zurück zur Hütte. Am späten Nachmittag
dann noch die erste Dreiviertelstunde vom Gratweg erkunden. Denn er würde am
darauffolgenden Morgen früh aufbrechen müssen, das war ihm klar beim Blick
hinauf zu den Gipfeln. Ganz früh. Wahrscheinlich noch in der Dunkelheit.
    Er träumte. Träumte bei jedem Schritt. Sah sich bereits am Grat.
Sah das weiße Kalkgestein hell leuchten. Sah sich gehen ohne eigentlichen Weg.
Stundenlang in großer Höhe und mit unverstellter Aussicht. Er sah sich irgendwo
Rast machen, schauen: nach Osten zum Karwendelgebirge, nach Westen zum
Alpspitz-Zugspitzmassiv und nach Norden zu den vorgelagerten Gebirgsgruppen,
die kleiner waren, unspektakulärer und doch schön: die Ammergauer Alpen, das
Estergebirge, die Bayerischen Voralpen mit der Benediktenwand. Nur der Blick
nach Süden war verstellt. Schade, dachte er. Denn dort, im Süden, wusste er die
gletschergekrönten Gipfel der Stubaier und der Zillertaler Alpen.
    Er träumte.
    Mit offenen Augen träumte er.
    Sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass irgendetwas nicht
stimmte.
    Der Steig war schmal, das Gelände abschüssig. Linker Hand setzte
eine Steilflanke an, über die vor Urzeiten ein Bergsturz herabgegangen sein
musste. Da war weit oben ein großes Stück vom Berg abgebrochen und
herabgestürzt. Zahllose, weit verstreute Felsbrocken, oft mannshoch und noch
höher, zeugten von diesem gewaltigen Naturereignis.
    Er hörte den schrillen Schrei einer Bergdohle.
    Das war alles. Und er dachte, morgen am Grat würde er auf die
Bergdohlen treffen, und sie würden ihn mit ihren Flugkunststücken beeindrucken,
sie würden ihn um etwas zu fressen anbetteln, und bestimmt wäre mindestens eine
dabei, die ihm ein Brotstückchen direkt aus der Hand picken würde.
    Er ging auf eine Engstelle des Weges zu, schaute dabei in den
Himmel, suchte die Dohle und schaute zum Grat. Die Engstelle wurde aus einem
riesigen Block linker Hand und einem etwas kleineren rechts gebildet. Wenn ihm
hier jemand begegnet wäre, hätten sie es wohl nur gerade so geschafft,
aneinander vorbeizukommen. Aber er war ja allein.
    Er war allein und er träumte.
    Er stand vor dem Felsentor.
    Einen Moment lang zögerte er: ob es sich lohnte, den Fotoapparat
auszupacken? Das Licht war nicht ideal. Er ließ es sein.
    Er ging weiter. Staunte. Machte einen Schritt und noch einen.
    Er ging durchs Tor hindurch.
    Ein fürchterlicher Schlag traf ihn seitlich am Kopf. Es war ihm,
als würde er seinen Schädel aufplatzen hören. Schreien wollte er, aber es kam
kein Laut aus ihm heraus. Stehen bleiben wollte er, versuchte noch einen
Ausfallschritt, aber die Knie gaben nach, er spürte sich niedersinken, alle
Kraft war binnen einer Sekunde aus seinem Körper geströmt.
    Der Gedanke, den er in diesem Augenblick zu fassen vermochte (war
es noch ein Gedanke? Oder war es nur mehr ein Reflex seines Gehirns?), war:
Steinschlag!
    Ein Stein musste aus größerer Höhe frei gefallen sein, ohne zuvor
noch aufzuschlagen, sonst nämlich hätte er etwas gehört und wäre gewarnt
gewesen.
    Steinschlag!
    Jetzt hat es mich also erwischt … hat es mich also doch erwischt
… so ein Stein … hier hat es mich erwischt …
    Im Niedersinken sah er neben sich etwas Dunkles, Schattenartiges.
    Er schlug mit den Knien auf dem steinigen Weg auf, mit den Armen
und dem Oberkörper fiel er auf den Wegrand. Er spürte keinen Schmerz, nicht den
geringsten. Gar nichts spürte er mehr. Ihm schwanden die Sinne. Was er hörte,
war ein Rauschen in seinem Kopf, als würde ein tobender, zerstörerischer
Wildbach hindurchfließen. Was er sah, war kein Bild mehr – nur mehr
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