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Henkerin

Titel: Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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beteiligen, weshalb er bei vielen als Schwächling galt. Wenn sie dann aber verletzt und fiebernd auf ihrem Lager dem Tod schon in die Augen sahen, dann war Raimund der beste Kamerad, und Kameraden halfen einander bekanntlich.
    Raimund schüttelte die Gedanken ab und überlegte, wie er am besten ungesehen an die Stelle kam, wo der Quendel wuchs. Er folgte dem Waldrand, schlug einen Bogen und gelangte zu einer kleinen Baumgruppe in der Nähe der Schlucht. Die Reiter standen immer noch mit dem Rücken zu ihm, keine sechshundert Fuß entfernt, aber sie konnten ihn weder hören noch sehen.
    Raimund ließ sich auf alle viere nieder, kroch ein Stück näher und ließ sich fallen, als er das Geräusch eines Armbrustbolzens hörte. Die Männer fielen fast gleichzeitig, nur einen Moment später saßen wieder drei Reiter im Sattel, die den Gefallenen zum Verwechseln ähnlich sahen. Zwei davon kannte er: Schergen von Ottmar de Bruce. Raimund drückte sich noch tiefer in die Mulde. Würde er jetzt entdeckt, wäre das sein sicherer Tod.
    Aus dem Boden wuchsen immer mehr Soldaten. Sie blieben dicht über der Erde, schoben ihre Armbrüste lautlos vor sich her. Einer der Reiter ritt nah an die Schlucht heran und machte ein Zeichen.
    Was er da beobachtete, war ein Hinterhalt! Und der konnte nur der Familie Wilhelmis gelten. Raimund kannte die Geschichte, wusste, dass die de Bruce und die Wilhelmis Todfeinde waren. Zuletzt hatte Gernot de Bruce dran glauben müssen, ein junger Heißsporn, der schon mit acht Jahren in einem Wutanfall einen Mann getötet hatte, aber als Sohn des Grafen Ottmar de Bruce ohne gerechte Strafe davongekommen war. De Bruce machte seine eigenen Gesetze, setzte sie gnadenlos durch. Gernot war sein einziger Sohn gewesen, sein Tod ein harter Schlag für ihn, und er hatte Rache geschworen an dem Mann, der Gernot erschlagen hatte. Raimund hatte den Zweikampf nicht gesehen, aber er hatte gehört, dass Gernot zuerst gezogen und Konrad Wilhelmis nicht viel Federlesens mit ihm gemacht hatte. Konrad hatte nur zehn Hiebe gebraucht, dann hatte Gernot in seinem Blut gelegen, die toten Augen gen Himmel gerichtet. Es hatte einige Zeugen gegeben, die alle dasselbe ausgesagt hatten: »Ein gerechter Kampf. Notwehr, denn Konrad hatte sich schon halb abgewandt, als Gernot das Schwert zog.«
    Raimund kannte Konrad Wilhelmis als einen strengen, gottesfürchtigen Mann, dessen Wort mehr wert war als eine Urkunde mit dem Siegel des Königs. Aber das mit Gernot war ein Fehler gewesen. Es hätte genügt, ihn zu entwaffnen und ihn damit zu demütigen.
    Raimund tastete nach seinem Dolch und beobachtete die andere Seite der Schlucht. Auch dort waren die Späher ausgeschaltet und ersetzt worden, waren Armbrustschützen in Stellung gegangen. Raimund musste de Bruce widerwillig Respekt zollen. Die Schützen mussten Höhlen in die Erde gegraben und sich darin versteckt haben.
    Vorsichtig kehrte er zurück. Diese Falle war makellos, und sie würde jeden Augenblick zuschnappen. Niemand, der jetzt in der Schlucht festsaß, würde lebend herauskommen. Raimund wusste genau, wie die Schützen vorgehen würden. Zuerst die gepanzerten Reiter ausschalten. Ein Leichtes mit Armbrüsten und starken Bögen. Dann das Fußvolk. Wer danach noch lebte, wurde von den Schwertkämpfern zerhackt.
    Und Raimund konnte nichts dagegen tun. »Herr, du bist gerecht.« Er fasste seine Gebetsschnur. »Nimm dich der armen Seelen an, die in der Schlacht den Tod finden werden, und nimm sie auf in dein Reich.«
    Die Schützen erhoben sich aus ihren Erdlöchern und begannen ihre blutige Arbeit. Raimund betete stumm, während die ersten Schreie durch die Schlucht hallten. Lautlos zog er sich an den Waldrand zurück. Er hatte genug gesehen und gehört. Die Lichtung, auf der er das Kraut vermutete, war nicht mehr weit. Vorsichtig eilte er von Deckung zu Deckung.
***
    Ein Schrei riss Melisande aus dem Schlaf. Der Karren ruckte und blieb stehen. Schon wieder ein Loch?
    Einen endlosen Augenblick lang war es totenstill, dann hörte sie ein vertrautes Geräusch. Ein Sirren, das schnell lauter wurde. Danach einen erstickten Laut. Die Plane rutschte zur Seite, Siegfried von Rabenstein begrub sie unter sich, als er auf den Karren stürzte. Fassungslos starrte Melisande ihn an. Ein Armbrustbolzen steckte in seiner Kehle, seine Augen waren weit aufgerissen. Blut gurgelte aus seinem Hals, seine Glieder zuckten, als wäre er von einem bösen Geist besessen. Ohne Warnung fiel er in sich
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