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Henkerin

Titel: Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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bitter bereuen. Und jetzt lass uns gehen. Das Fest beginnt.« Vater hatte gezögert, tief Luft geholt und Mutters Kopf zärtlich in seine großen Hände genommen. »Beata, du siehst wundervoll aus. Und ich liebe dich. Das ist alles, was zählt.«
    Melisande hätte fast losgegickelt, als sich die beiden um den Hals fielen und abschleckten wie die Welpen. Aber noch lange nachdem sie fortgegangen waren, hinunter auf den Hof, wo das Hochzeitsfest in vollem Gange war, tanzten Beatas ängstlich geflüsterte Worte über den Flur.
***
    De Bruce hatte sich vom Hohlweg zurückgezogen, vorher aber noch einmal kontrolliert, ob alle Spuren verwischt waren. Im Schatten eines Baumes wartete er geduldig wie eine Katze auf die Maus. Adam nutzte die Zeit, übte mit dem Kurzschwert und brachte seinem Herrn von Zeit zu Zeit etwas mit Quellwasser gemischten Wein.
    Warten war eine ritterliche Tugend. Wenn der richtige Augenblick gekommen war, hieß es schnell und hart zuschlagen. Verpasste man ihn, hieß es wieder warten. Eine halbe Stunde konnte über den Ausgang einer Schlacht entscheiden, ein Wimpernschlag über Leben oder Tod im Zweikampf. Warten hieß, seine Gefühle zu beherrschen. Es war eine hohe Kunst, und de Bruce beherrschte sie meisterlich. Dafür war er seinem Vater dankbar. Er hatte ihm alles Weinerliche, Weibische und Schlaffe ausgetrieben. Anfangs war es hart gewesen, aber mit den Jahren hatte de Bruce den unbezahlbaren Vorteil erkannt, den ein Mensch hatte, der sich nicht von seinen Gefühlen kontrollieren ließ.
    Elf Monate waren vergangen, seit Konrad Wilhelmis Gernot ermordet hatte, seinen einzigen Sohn. Dieser hinterhältige Mörder hatte dem Jungen keine Zeit für einen fairen Kampf gelassen. De Bruce war sich sicher, dass Wilhelmis die Zeugen gekauft hatte, die geschworen hatten, Gernot habe das Schwert zuerst gezogen. Das Gericht hatte Wilhelmis freigesprochen. De Bruce jedoch wusste, dass Gernot es nicht gewagt hätte, gegen seinen Befehl zu handeln, und der hatte gelautet: »Greif einen Wilhelmis niemals ohne einen zweiten Mann als Deckung an, niemals vor Zeugen und niemals von vorne.«
    Konrad Wilhelmis war ein Feigling, der all seine Aufforderungen abgelehnt hatte, ihm Genugtuung zu leisten. Erbärmlich. Hätte er sich dem Zweikampf gestellt, hätte er seine Familie retten können. Vielleicht.
    Ottmar de Bruce leckte sich die Lippen. Schon seit einiger Zeit hatte er einen ganz besonderen Leckerbissen im Auge, der ihm die Vorfreude auf die Schlacht zusätzlich versüßte: Wilhelmis’ Tochter Melisande. Alles war vorbereitet, bald würde die schmackhafte, aber noch unreife Beute in seinen Armen zappeln.
***
    Die Langeweile brach wieder über Melisande herein. »Spät am Abend, wenn es dunkel wird«, wiederholte sie in Gedanken. Sie seufzte. Also würde sie noch viele Stunden ausharren müssen, denn es war Frühsommer, und die Tage waren lang. Gewöhnlich freute sie sich darüber, denn dann konnte sie länger draußen spielen, durch die Wälder streifen und mit dem Bogen Hasen jagen. Bisher hatte sie allerdings noch keinen erlegen können. Zu schnell sprangen die Tiere davon, und die Pfeile waren, wie verhext, jedes Mal danebengegangen. Rudger lachte immer nur, wenn sie ihm von ihren Misserfolgen erzählte. Er erlegte einen Hasen mit einem einzigen Schuss. Kein Wunder. Er übte ja viele Stunden am Tag, nutzte jeden freien Augenblick, in dem er nicht über den Büchern brüten musste oder mit Vater unterwegs war. Rudger hatte ein schönes Leben. Abenteuer. Reisen. Er hatte schon viele Städte gesehen: Köln, Trier, Lucca und Venedig. Zwei Monate waren sie beim letzten Mal fort gewesen, Melisande musste zu Hause bleiben und nähen lernen und kochen. Rudger war halt ein Mann. Er konnte gehen, wann und wohin er wollte, während sie immer eine Begleitung haben musste.
    Eines Tages wollte Melisande auch so frei sein wie Rudger. Dabei hatte sie es ja noch ganz gut. Wenn sie da an Gerrit dachte, die Tochter des Gewürzhändlers Antonis. Die Arme! Die durfte nicht einmal reiten. Geschweige denn mit Pfeil und Bogen hantieren. Den ganzen Tag musste sie im Haus arbeiten, ihrer Mutter zur Hand gehen wie eine Magd.
    Ein kräftiger Stoß ließ Melisande von der Truhe purzeln. Sie rollte sich auf dem Boden zusammen und rieb sich den schmerzenden Arm. Beata flog gegen die harten Planken und stöhnte, hielt sich den Bauch. Gertrud murmelte im Schlaf. Der Karren blieb ruckartig stehen.
    Von draußen hörte Melisande ihren Vater
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