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Henkerin

Titel: Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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dass Adam sich bekreuzigte, lachte er schallend. »Mein lieber Freund, wenn Gott keinen Gefallen an mir hätte, dann wäre ich schon lange tot. Auf jetzt, unsere Beute wartet!«
    Melisande rutschte unruhig auf dem harten Holz hin und her. Anfangs hatte sie versucht, sich dem Rhythmus der Ochsen anzupassen, die den Karren zogen, aber das hatte sie schnell aufgegeben. Der Weg strotzte von Unebenheiten und Löchern, sodass sie sich festhalten musste, um nicht von der Kleidertruhe zu fallen. Immer wenn eins der mühlsteingroßen Räder in den Untergrund einsackte, hob sich das andere in die Luft.
    Konrad, Melisandes Vater, hatte darauf bestanden, die Familie in diesem unbequemen Gefährt nach Hause zu bringen. Und Beata, Melisandes Mutter, hatte dafür gesorgt, dass sie ein hässliches Leinenkleid anzog. Wie ein Sack hing der grobe Stoff an ihr herunter, sie sah damit aus wie ein Bauernjunge, der etwas zu schmal geraten war. Die rindsledernen Schuhe hatte Melisande ausgezogen, um sich ein wenig Kühlung zu verschaffen. Ihre langen feuerroten Haare hatte sie mit einer silbernen Spange hochgesteckt, das einzige Schmuckstück, das sie als Tochter der reichen Kaufmannsfamilie Wilhelmis auswies.
    Es kam Melisande vor, als seien sie schon seit Tagen unterwegs. Dabei waren sie erst am Morgen aufgebrochen, und es war nicht mehr weit bis Esslingen, wo sie ein großes Haus am Marktplatz bewohnten. Trotzdem fragte sie ihre Mutter wohl zum hundertsten Mal, wann sie denn endlich da sein würden.
    »Wenn die Sonne untergeht, sind wir zu Hause«, sagte Beata geduldig und streichelte Gertrud, die in ihren Armen schlief, über den Kopf.
    Melisande verzog das Gesicht. Ihre kleine Schwester konnte immer und überall schlafen. Selbst wenn Blitz und Donner alle in Angst und Schrecken versetzten, lag sie zusammengerollt auf ihrem Lager und wachte nicht auf. Sie selbst sehnte sich nach irgendeiner Beschäftigung. Wenn sie wenigstens sticken könnte. Oder lesen. Aber das ging bei dem Gerumpel nicht. Bevor sie auch nur einen Stich in den Stoff gemacht hätte, hätte sie sich zehnmal mit der Nadel in den Finger gestochen. Und die Buchstaben, die von den Abenteuern der edlen Ritter Parzival und Gawan erzählten, würden so wild vor ihren Augen herumtanzen, dass ihr übel würde.
    Schreiben war erst recht unmöglich. Sonst hätte sie den Psalm übersetzen können, den ihr der Magister aufgegeben hatte. Psalmen, wie furchtbar! Melisande las lieber Geschichten von Rittern und Drachen. Gawan, das war ein Held nach ihrem Geschmack. Wie tapfer er war! Und wie gewandt. Wenn sie doch nur im wirklichen Leben einmal einem solchen Ritter begegnen würde! Stattdessen musste sie die Bücher Moses abschreiben und Psalmen auswendig lernen.
    Immerhin, Vater und Mutter waren stolz auf sie. Und weil sie so gut war in Latein, Rechnen und Lesen, durfte sie manchmal mit Pfeil und Bogen üben. Den anderen Mädchen war das nicht erlaubt, und Vater und Mutter hatten ihr eingeschärft, es niemandem zu erzählen.
    Das Gefährt bäumte sich wieder auf, Melisande krallte sich am Karrenrand fest und spürte einen harten Stoß im Steißbein. Wenn das so weiterging, würde sie eine Woche lang nicht sitzen können. Sie rutschte von der Truhe und schlug die Plane beiseite, die Vater gespannt hatte, um Mutter vor der Sonne zu schützen. Beata sah ulkig aus mit ihrem dicken Bauch und den großen Brüsten. Und ihr Gesicht war auch ganz rund. Alles an ihr war rund, seit das neue Geschwisterchen in ihr wuchs. Vater hatte gesagt, es würde bestimmt ein Junge werden, aber Mutter hatte nur stumm gelächelt.
    Melisande blinzelte in die Sonne. Direkt vor ihr klapperte eine Rüstung. Vielfach spiegelte sich die Sonne in dem polierten Metall. Melisande kannte den Mann nicht. Er machte den Eindruck, jeden Gegner in den Staub treten zu können. Sein Ross war mächtig wie ein Zuchtbulle, schnaubte wie ein Drache und schien ständig nach irgendetwas Ausschau zu halten, das es angreifen konnte. In der Rechten hielt der Mann eine Lanze, an der linken Seite hing eine Armbrust und auf dem Rücken ein Bihänder, mit dem man mit einem einzigen Streich einen Mann von oben bis unten in zwei Teile spalten konnte. Sofern man die Kraft besaß, die schwere Waffe zu heben.
    Einmal hatte Melisande ein solches Schwert anfassen dürfen. Mit Müh und Not hatte sie es vom Boden hochbekommen. Einen Hieb hatte sie damit nicht führen können. Der Onkel hatte es ihr vorgeführt: Wie einen Strohhalm hatte er die
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