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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen
Autoren: Elizabeth Moon
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war nicht in der Stimmung für Spiele.
    Sie benötigte eine Ausrede. »Nein, danke«, sagte sie, setzte die Worte zusammen wie die Teile eines komplizierten Modells, achtete dabei sorgfältig auf Tonfall und Lautstärke und
    Veränderungen der Tonhöhe. »Ich muss trainieren … Vielleicht ein anderes Mal.«
    Sie ging in die Turnhalle, in der jetzt im Nachhinein der Kämpfe nur wenig Betrieb herrschte. Alle Leute waren mit den Dienstplänen durcheinander, nicht nur sie; sie schalt sich für ihre Zerstreutheit und stieg in eine der Tretmühlen. Als sie zur Seite sah, blieb ihr Blick am mechanischen Pferd hängen.
    Während ihrer ganzen Flottenkarriere war sie noch nie auf einen dieser Apparate gestiegen; sie hatte nie auch nur daran gedacht.
    Falls sie schon keine Freude daran fand, richtige Pferde zu reiten, wieso dann die Mühe mit einem Simulator?
    Er roch ja nicht wie ein richtiges Pferd. Dieser Gedanke schmuggelte sich ein, und Esmays Gedanken produzierten ein Bild von Luci auf der braunen Stute, zwei anmutige junge Tiere, die sich an Bewegung ergötzten. Ein schmerzlicher Stich – war sie einmal wie Luci gewesen? Konnte sie es einmal gewesen sein? Konnte sie solche Anmut besessen haben?
    Niemals, niemals … Sie trat kraftvoller in der Tretmühle zu und stürzte beinahe. Das Sicherheitsgeländer fühlte sich kalt unter den Handflächen an. Esmay zwang sich, langsamer zu werden, sich gleichmäßig zu bewegen. Die Vergangenheit war 614
    vergangen; sie würde sich nicht verändern, weil sie sich das wünschte oder weil sie mehr darüber erfuhr.
    »Abend, Lieutenant.« Ein Jig ging an ihr vorbei zum Pferd hinüber. Er stieg unbeholfen auf, und Esmay konnte an den Bewegungen der Maschine erkennen, dass er sie auf
    Basismodus eingestellt hatte, ein langsamer Trab in gerader Linie. Aber auch so hinkte er hinter dem Rhythmus her, in dem sich der Simulator bewegte.
    Esmay konnte das besser. Selbst heute noch konnte sie es besser, und sie wusste es.
    Sie hatte keinen Grund, es besser zu machen. In ihrem
    jetzigen Leben bestand kein Bedarf an Reitkunst. Sie erinnerte sich an den Geruch, den Schmutz, den Schmerz … aber ihr
    Vorstellungsvermögen beschwor Bilder von Schnelligkeit und Schönheit und Anmut herauf. Von Luci… und beinahe auch,
    ganz am Rande des Gewahrseins, von ihr selbst.
     
    An der Wand von Annies Kabine – so bezeichnete Esmay sie in Gedanken, auch wenn sie keinen Grund zu der Annahme hatte, dass hier wirklich Annies Quartier war – zeigte ein
    Flachbildschirm eine undeutliche, nebelverhangene Landschaft in weichen Grün-und Goldtönen. Ganz anders als Altiplano, wo sich die Berge scharf vor dem Himmel abhoben, aber es war ein Planet, und allein dadurch fühlte sie sich mehr erdverbunden.
    »In Ihrer Kultur«, leitete Annie das Gespräch ein, »bezeichnet die globale Definition einer Frau oder eines Mädchens zum Teil jemanden, der beschützt werden muss. Sie waren ein Mädchen und wurden nicht beschützt.«
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    Ich war des Schutzes nicht würdig, ging es Esmay durch den Kopf. Sie rollte sich in dem Afghan zusammen und hätte
    beinahe gezittert; sie konzentrierte sich auf den Stoff, seine Beschaffenheit, seine Wärme. Jemand hatte ihn von Hand
    gehäkelt; sie entdeckte einen Fehler im Muster.
    »Ein Kind denkt anders«, fuhr Annie fort. »Sie wurden nicht beschützt, und so entschied Ihr kindlicher Verstand, der den Vater schützen wollte, wie es Kinder nun mal tun, und umso stärker, da Ihre Mutter gerade gestorben war… und so entschied Ihr kindlicher Verstand, Sie wären kein richtiges Mädchen oder kein gutes Mädchen und damit so oder so des Schutzes nicht würdig. Ich vermute, dass sich Ihr Verstand aus ganz eigenen Gründen für die Richtung ›kein richtiges Mädchen‹ entschied.«
    »Warum sagen Sie das?«, fragte Esmay, die sich an die zahlreichen Gelegenheiten erinnerte, an denen ihr jemand sagte, sie wäre ein böses Mädchen.
    »Aufgrund Ihres Verhaltens als Heranwachsende und als
    Erwachsene. Diejenigen, die sich für böse Mädchen halten, benehmen sich auch wie böse Mädchen – was immer das in der jeweiligen Ursprungskultur bedeutet. Ich vermute, bei Ihnen hätte es darin bestanden, sich in Affären mit allem und jedem zu stürzen, was ein Y-Chromosom aufwies. Sie haben sich
    auffallend gut verhalten – so steht es zumindest in Ihren Eignungsunterlagen –, aber Sie haben keine dauerhaften
    Beziehungen geknüpft, weder zum einen noch zum anderen
    Geschlecht. Darüber hinaus
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