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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen
Autoren: Elizabeth Moon
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haben Sie sich für eine Laufbahn entschieden, die sich mit der Frauendefinition Ihrer Kultur nicht verträgt, als wären Sie eher ein Sohn als eine Tochter.«
    »Aber das ist doch nur Altiplano …«
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    »Ja, aber dort sind Sie aufgewachsen; dort wurde Ihre
    Einstellung zu den Grundlagen menschlichen Verhaltens am tiefsten geformt. Passen Sie als Frau in Ihre Gesellschaft?«
    »Naja … nein.«
    »Sind Sie weit genug von der dortigen Norm entfernt, dass sich die Menschen dort in Ihrer Gesellschaft unbehaglich fühlen?«
    »Ja …«
    »Wenigstens haben Sie sich nicht für den radikalen Ansatz entschieden: Manche Leute in Ihrer Lage beschließen, beide Teile der Definition umzukehren und sich als ›böse
    Nichtmädchen‹ zu verstehen.«
    »Bedeutet das, dass ich … jetzt keine Frau mehr bin?«
    »Himmel, nein! Nach den Maßstäben der Flotte und der
    meisten Gesellschaften in den Familias bewegen sich Ihre Interessen und Verhaltensweisen locker innerhalb der
    Definition. Zölibatäres Verhalten ist ungewöhnlich, kommt aber vor. Außerdem haben Sie darin bis jetzt kein Problem gesehen, nicht wahr?«
    Esmay schüttelte den Kopf.
    »Dann sehe ich keinen Grund, warum wir uns darüber Sorgen machen sollten. Der Rest – die Albträume, die
    Rückerinnerungen nach Kampfsituationen, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und so weiter – kann behandelt werden. Falls die Dinge gelöst sind, die Ihnen Kummer bereiten, und Sie einen anderen Anlass zur Sorge finden, können wir uns dann damit befassen.«
    Das klang sinnvoll.
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    »Meine Vermutung – und es ist nur eine Vermutung, keine
    Expertenmeinung – lautet: Wenn Sie den Rest Ihres Problems geklärt haben, wird Ihnen die Entscheidung leicht fallen, ob Sie sich einen Partner wünschen, und falls Sie das wünschen, werden Sie auch einen finden.«
     
    Sitzung auf Sitzung folgte in diesem stillen, gemütlichen Raum mit seinen weichen Stoffen und warmen Farben … Esmay hatte inzwischen das Grauen davor verloren, obwohl sie nach wie vor wünschte, die Therapie wäre nicht nötig. Es erschien ihr immer noch unanständig, so viel Zeit darauf zu verwenden, über sich und ihre Familie zu reden, besonders wenn Annie sich weigerte, die Fehler zu entschuldigen, die die Familie begangen hatte.
    »Das ist nicht meine Aufgabe«, sagte Annie. »Letzten Endes kann es sich als Ihre Aufgabe erweisen, der Familie zu vergeben
    – im Interesse der eigenen Heilung –, aber es ist weder Ihre noch meine Aufgabe, eine Entschuldigung zu akzeptieren und so zu tun, als hätte die Familie nicht getan, was sie nun mal getan hat. Wir befassen uns hier mit der Realität, und die Realität sieht so aus, dass die Familie das, was Ihnen geschah, noch verschlimmert hat. Durch ihre Reaktion fühlten Sie sich noch weniger kompetent und noch hilfloser.«
    »Aber ich war doch hilflos«, wandte Esmay ein. Sie hatte sich den Afghan über die Knie gezogen, aber nicht über die
    Schultern; inzwischen konnte sie am Ausmaß der Bedeckung erkennen, unter wie viel Stress sie stand.
    »Ja und nein«, entgegnete Annie. »In einer Hinsicht ist jedes Kind dieses Alters hilflos gegenüber einem Erwachsenen – es fehlt einfach die Körperkraft, um sich ohne Hilfe zu verteidigen.
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    Aber körperliche Hilflosigkeit und das Empfinden von
    Hilflosigkeit sind nicht dasselbe.«
    »Ich bin verwirrt«, gestand Esmay; sie hatte letztlich gelernt, das zuzugeben. »Wenn man hilflos ist, fühlt man sich auch so.«
    Annie blickte auf das Wanddisplay, das diesmal ein Stillleben von Obst in einer Schale zeigte. »Ich möchte es mal anders versuchen. Das Empfinden von Hilflosigkeit weist darauf hin, dass etwas hätte getan werden können – dass man etwas tun sollte. Man fühlt sich nicht hilflos, wenn man nicht auch irgendeine Verantwortung empfindet.«
    »Daran habe ich noch nie gedacht«, sagte Esmay. Sie tastete in sich herum und probierte es mit dieser Vorstellung …
    stimmte sie?
    »Nun … haben Sie sich in einem Unwetter schon mal hilflos gefühlt?«
    »Nein …«
    »In manchen Situationen haben Sie vielleicht Angst –
    vielleicht bei Unwettern –, aber fühlen sich nicht hilflos. Die gegensätzlichen Gefühle der Hilflosigkeit und des
    Selbstvertrauens/der Kompetenz entwickeln sich im Laufe der Kindheit, während die Kinder allmählich versuchen, in den Ablauf der Dinge einzugreifen. Solange Sie nicht die
    Vorstellung hegen, etwas wäre zu beeinflussen, machen Sie sich auch nicht die Mühe mit aktivem
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