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Heldin wider Willen

Heldin wider Willen

Titel: Heldin wider Willen
Autoren: Elizabeth Moon
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ihm so schlecht ging. Wegen der Notwendigkeit, Sie zu konsultieren, und …
    und aufgrund dessen, was passiert war.«
    »Barin Serrano? Oh. Der Ensign auf der Krankenstation – er wurde einem anderen Behandler zugeteilt. Interessant. Sind Sie befreundet?«
    »Ja.«
    »Es muss Ihnen schwer gefallen sein, es ihm zu erzählen …
    Wie hat er reagiert?«
    »Ich weiß nicht, wie eine normale Reaktion ausgesehen hätte.
    Er war böse auf meinen Vater.«
    »Gut für ihn«, sagte Annie. »Genau das nenne ich eine normale Reaktion. Nun, da sie die Geschichte schon einmal erzählt haben … denken Sie, Sie könnten sie auch mir erzählen?«
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    Esmay holte Luft und stürzte sich wieder in die Geschichte.
    Es war diesmal nicht leichter … aber auch nicht schwieriger, obwohl Annie eine Fremde war. Wenn Esmay stockte, fragte Annie gerade genug nach, um die Erzählung wieder in Gang zu bringen. Endlich – Esmay war überzeugt, dass es Stunden gedauert hatte –war sie zu Ende. »Ich dachte … dachte, ich wäre womöglich verrückt geworden. Wegen des Fiebers oder sonst etwas.«
    Annie schüttelte den Kopf. »Das ist ein Punkt, über den Sie sich keine Sorgen machen müssen, Esmay. Nach jeder Definition geistiger Gesundheit sind Sie völlig auf der sicheren Seite … und waren es immer. Sie haben gewaltige Traumata überlebt, körperliche und emotioneile, und obwohl diese Traumata Ihrer Entwicklung geschadet haben, haben sie Sie nicht aufgehalten. Ihre Schutzmechanismen waren normal; was man als verrückt bezeichnen könnte – oder zumindest als unvernünftig – war die Reaktion ihrer Familie, zumindest insoweit sie sich in einer Einzelperson manifestierte.«
    »Aber sie waren nicht verrückt… sie waren es doch nicht, die nachts jeden im Haus mit ihren Schreien geweckt haben …« Es war absurd, sich ihre Familie als verrückt vorzustellen, diese normalen Leute, die in Alltagskleidern umherliefen und ein normales Leben führten.
    »Esmay, Albträume sind kein Symptom des Wahnsinns.
    Etwas Schreckliches war Ihnen passiert; Sie hatten Albträume davon: eine normale Reaktion. Ihre Familie hat jedoch so getan, als wäre nichts geschehen und Ihre normalen Albträume wären das eigentliche Problem. Das war ein Versagen, sich der Realität zu stellen – und den Kontakt mit der Realität zu verlieren, das ist ein Symptom von Geisteskrankheit. Wenn eine Familie oder 606
    sonstige Gruppe es zeigt, ist das ebenso ernst wie bei einer Einzelperson.«
    »Aber…«
    »Fällt es Ihnen schwer, Ihre normale Familie – die ihr alltägliches Leben führt – mit Ihrer Vorstellung von Wahnsinn in Verbindung zu bringen? Das überrascht mich nicht. Wir werden noch mehr darüber und über Ihre übrigen Probleme reden, aber gestatten Sie mir, Ihnen eins zu versichern: Sie sind geistig normal, und Ihre Symptome können behandelt werden. Wir werden hier viel Zeit darauf verwenden müssen, und Sie erhalten auch Aufgaben übertragen, die Sie selbstständig ausführen müssen. Diese Aufgaben müssten circa zwei Stunden zwischen unseren Sitzungen in Anspruch nehmen, die ich zunächst auf zwei pro Dekade festlege, also alle fünf Tage eine.
    Nun, haben Sie Fragen zum Ablauf?«
    Esmay war überzeugt, dass sie Fragen hatte, kam aber einfach nicht darauf, welche. Sie empfand das überwältigende Bedürfnis, sich hinzulegen und zu schlafen; sie war müde, als hätte sie zwei Stunden lang trainiert.
    »Wahrscheinlich werden Sie während der ersten Sitzungen somatische Symptome zeigen«, fuhr Annie fort. »Sie werden müde sein, vielleicht Schmerzen haben. Sie fühlen sich vielleicht versucht, Mahlzeiten auszulassen oder Desserts herunterzuschlingen … Versuchen Sie, regelmäßig und zurückhaltend zu essen. Nehmen Sie sich mehr Zeit zum Schlafen, wenn Sie können.«
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Kapitel einundzwanzig
    Das war leicht gesagt, aber was nützte Zeit zum Schlafen, wenn man nicht schlafen konnte? Esmay erwarb genaueste Kenntnisse jedes Makels an Schotten und Decke, an jedem Objekt in ihrem Quartier. Wenn sie die Augen schloss, fühlte sie sich noch wacher als zuvor und spürte ihr Herz rasen. Zu den Mahlzeiten zwang sie pflichtgemäß einen Bissen nach dem anderen
    herunter, ahmte dabei jede Person nach, die zufällig vier Plätze weiter links saß, nahm jeweils dann einen Bissen, wenn es auch er oder sie tat. Niemand schien es zu bemerken. Esmay fühlte sich wie in einer hohlen Kugel schwebend; nichts schien ganz in ihrer Reichweite zu sein.
    Zu ihrer Überraschung und
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