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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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er keine Tränen mehr hatte und ihm die Kehle vor lauter Schluchzen wund war, schlug Namakan schließlich die Augen auf und rappelte sich hoch. Dalarr war nicht untätig geblieben. Er hatte die toten Kinder eines nach dem anderen an eine Stelle auf dem Hof getragen, die weitgehend frei von Schlamm war. Sein Gesicht und seine Hände waren schwarz von Ruß und Asche.
    Wie betäubt sah Namakan dabei zu, wie sein Meister sich erst die Finger in einer Pfütze wusch, ehe er Lodajas Leiche in seinen Umhang wickelte und sie mit ihren Schützlingen vereinte. Namakan wischte sich den Rotz von der Nase. »Was wollten sie von uns?«, fragte er heiser.
    »Sie haben einen Schatz gesucht«, antwortete ihm Dalarr ruhig.
    »Welchen Schatz? Wir haben keinen Schatz.«
    Dalarr ging nicht auf seine traurige Verwunderung ein. Stattdessen trat er auf ihn zu, rückte ihm die nasse Kapuze zurecht und tätschelte ihm den Nacken. »Ich habe Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen dürfen«, erklärte Dalarr. »Und ich habe dir Dinge vorgeworfen, die du nicht ändern kannst. Das tut mir leid.«
    Namakan schluckte und spürte seine Unterlippe zittern. Es kam nicht oft vor, dass sein Meister sich für eine Ruppigkeit entschuldigte.
    »Ich habe daran gedacht, wie mir Lodaja die Ohren dafür langgezogen hätte, dich armen Wicht dermaßen anzublaffen«, fuhr Dalarr leise fort. »Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?«
    Namakan schüttelte den Kopf.
    »Dass ich nicht ein Quäntchen ihrer Sanftmut in mir habe und dass du mir deshalb eines Tages abspenstig wirst, weil es dir zu viel mit mir altem Griesgram wird, der nur Schläge und böse Worte austeilt, wenn du eigentlich Halt und Zuspruch bräuchtest.«
    »Niemals«, flüsterte Namakan. »Niemals, Meister.«
    »Schön.« Dalarr legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie fest. »Komm!«
    Namakan folgte ihm zum gemauerten Schuppen neben der Schmiede. Er war von den Flammen weitestgehend verschont geblieben, weil das Feuer an ihm nicht genug Nahrung gefunden hatte. Dalarr reichte seinem Schüler einen Spaten. »Heb ein Grab für sie aus, Junge.«
    Sie sind fort. Sie sind wirklich fort. Namakan drohte unter der Last der ihm gestellten Aufgabe einzuknicken und stützte sich rasch auf dem Spatenstiel ab. »Nur ein Grab?«
    »Eine Familie, ein Grab«, entgegnete Dalarr und schickte ihn an die Arbeit.
    Anfangs trieb Namakan noch die Furcht um, er könnte es niemals schaffen, eine Grube auszuheben, die breit und tief genug für alle war. Doch Spatenstich für Spatenstich rang er diese Angst nieder und erkannte rasch, dass es ihm gut tat, seine Muskeln zu schinden, das Brennen und Ziehen in ihnen zu spüren.
    Ich bin noch am Leben. Ich missachte ihr Andenken, wenn ich mir wünsche, ich könnte für immer bei ihnen im Schlamm liegen. Ich bin noch in der Welt. Ich muss von ihnen reden und an sie denken, damit sie wenigstens in mir lebendig bleiben. Ich darf nicht vergessen, wie Miska lacht, hell und quiekend wie ein Ferkel. Wie winzig Tscheschs Fingerchen sind und wie viel winziger noch die Nägel daran. Robliks dumme Reime. Die Hose, die Hose, die trinkt so gerne Soße. Vier mal vier macht sechzehn Bier. Selesas gieriges Glänzen in den Augen, wenn ich ihr sage, dass die Stachelbeeren reif sind. Lodajas liebste Seife, die so schlimm nach Lavendel riecht.
    Erst wenn er all das vergaß, waren sie endgültig fort, und er schwor sich, all das nie zu vergessen – selbst wenn ihm zu den dreißig Sommern, die er schon gesehen hatte, noch dreihundert mehr vergönnt waren und er genauso alt werden sollte wie der älteste Greis, der bisher aus dem Talvolk erwachsen war. Dann würde er auch voller Stolz die Erinnerung an Dalarr in sich bergen, der sicher lange vor ihm wissen würde, ob die Stille Leere, an die er glaubte, womöglich doch nicht ganz still war. Der Gedanke daran, dass er auch seinen Meister eines Tages verlieren würde, weil die großen Menschen nun einmal schneller vergingen, spornte Namakan nur dazu an, die Zähne zusammenzubeißen und sich weiter in die schwere Erde zu wühlen. Es scherte ihn auch nicht, dass der Schaft des Spatens immer glitschiger wurde, weil ihm das Holz die Haut bis hinunter aufs rohe Fleisch von den Handflächen scheuerte. Im Schmerz fühlte er sich denen näher, die keinen Schmerz mehr kannten.
    Namakan erwachte langsam aus dem tiefen Schlaf der Erschöpfung, in den er gefallen war wie in einen bodenlosen Schlund. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er
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