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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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wusste nur, dass sein Kopf auf etwas ruhte, das nach Leder roch: sein Rucksack, in dem er die Ausrüstung für den Ausflug in die Berge verstaut hatte. Er setzte sich auf und stellte fest, dass seine Hände dick verbunden waren. Er schnupperte an ihnen und nahm einen Hauch von Lodajas Salbe wahr, mit der sie aufgeschürfte Knie und andere kleine Schrammen behandelte. Sie musste ihm die Verbände angelegt haben. Namakan lächelte, ehe ihm der Gedanke kam: Nein. Lodaja ist tot.
    »Willst du noch lange da faul herumliegen?«, hörte er seinen Meister rufen.
    Er ließ ungläubig den Blick über den Hof schweifen. Die Leichen waren verschwunden, ihr Grab zugeschüttet. Der kleine Hügel aus feuchter Erde, der den genauen Ort ihrer letzten Ruhestätte verriet, würde nicht lange bestehen. Wind und Regen würden ihn abtragen, während die Leiber unter ihm eins mit dem Element wurden, das ihr Ursprung war.
    Namakan deutete auf ein großes, dreckverkrustetes Bündel Öltuch zu Dalarrs Füßen. Er hatte es noch nie gesehen. »Wo kommt das her?«
    »Ich habe selbst ein bisschen gegraben.« Dalarr half ihm auf die Beine.
    »Was ist da drin?«
    »Später«, vertröstete Dalarr ihn, trat vor das frische Grab und breitete die Arme aus, wobei seine Handflächen hinauf zum Himmel zeigten, an dem sich die Wolken zu immer höheren Gipfeln auftürmten. »Erst singen wir für sie.«
    In einer Stimme dunkel und kräftig wie Paukenschläge hob Dalarr zu einer Melodie an, die in Namakans Kopf Bilder von trostlosen Weiten und sich in ferne Meere wälzenden Strömen heraufbeschwor:
     
    I nista skirpanda soktu ek, jarta mitt.
    I eldtungna leta soktu ek, hem minn.
    I gleda glowanda, soktu ek, lif mitt.
    En bara oskir er var eldar.
     
    I stena bidum soktu ek, jarta mitt.
    I glerglanda soktu ek, hem minn.
    I hems bretanda soktu ek, lif mitt.
    En bara rik er var grot.
     
    I wikja gjalfi soktu ek, jarta mitt.
    I floda stromi soktu ek, hem minn.
    I bilgja bilgjanda soktu ek, lif mitt.
    En bara tar eru var regin.
     
    I storma beljanda soktu ek, jarta mitt.
    I fengja flotanda soktu ek, hem minn.
    I vinda vislanda soktu ek, lif mitt.
    En ginnungagap er nu var filli.
    Namakan verstand die Worte des Liedes nicht, denn sie stammten aus der Sprache von Dalarrs Heimat, und er hatte ihre kehligen, grollenden Laute bisher nur selten gehört. Entweder wenn Lodaja und Dalarr in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich vor den Ohren ihrer Mündel sicher glaubten, einen stürmischen Zwist austrugen. Oder – und dies war die weitaus häufigere Gelegenheit gewesen – wenn Namakan durch eine Unbeholfenheit Dalarrs reizbares Gemüt in Wallung brachte und sich dafür eine Schelte voll rätselhafter Beschimpfungen und Verwünschungen abholte. Namakan hätte nie erwartet, dass in einer Zunge, die für ihn bislang nur mit Sorge oder Scham verbunden war, so viel Wohlklang liegen konnte. Ungeduldig wartete er, bis Dalarr geendet hatte.
    »Ich will auch für sie singen«, verlangte er.
    »Dann sing.«
    »Ich würde gern das Lied singen, das du gesungen hast.« Namakan schaute betreten auf seine Zehen. »Aber ich durfte ja nie deine Sprache lernen.«
    »Wenn es nur das ist …«, brummte Dalarr. »Ich musste dieses Lied schon einmal übersetzen.«
    »Ehrlich?« Manchmal vergaß Namakan, wie alt sein Meister schon war und wie viel er wohl in der Welt jenseits der Berge erlebt hatte. »Für wen?«
    »Für jemanden, der seine Heimat verloren hatte. Er war …« Er brach ab und wischte sich hastig über die Augen. »Hör gut zu:
     
    Im Sprühen der Funken suche ich dich, mein Herz.
    Im Flackern der Flammen suche ich dich, mein Heim.
    Im Glimmen der Gluten suche ich dich, mein Leben.
    Doch Asche ist nun unser Feuer.
     
    Im Harren der Steine suche ich dich, mein Herz.
    Im Glitzern des Glases suche ich dich, mein Heim.
    Im Wandeln der Welten suche ich dich, mein Leben.
    Doch Staub ist nun unser Felsen.
     
    Im Raunen der Bäche suche ich dich, mein Herz.
    Im Fließen der Fluten suche ich dich, mein Heim.
    Im Wogen der Wellen suche ich dich, mein Leben.
    Doch Tränen sind nun unser Regen.
     
    Im Tosen der Stürme suche ich dich, mein Herz.
    Im Schweben der Schwingen suche ich dich, mein Heim.
    Im Wispern der Winde suche ich dich, mein Leben.
    Doch Leere ist nun unsre Fülle.«
    Dreimal noch sang Dalarr das ganze Lied, ehe Namakan die Worte gut genug kannte, um einzustimmen. Die Wolken begannen, ihre Last von sich zu werfen, als wollten sie den beiden winzigen, unbedeutenden
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