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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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Geschöpfen weit unter ihnen dabei helfen, ihre Trauer fortzuspülen.
    Nachdem das letzte Wort ihrer Klage verklungen war, fragte Namakan seinen Meister: »Wie soll es jetzt weitergehen?«
    »Jetzt tun wir etwas, das ich schon vor langer Zeit hätte tun sollen«, antwortete Dalarr mit grimmiger Miene und musterte dabei das schmutzige, ausgegrabene Bündel, das unter den prasselnden Tropfen langsam seine Hülle aus Dreck verlor. »Jetzt gehen wir einen König erschlagen.«

2
    Kenne deine Eltern wie das Haar auf deinen Füßen, denn wenn du sie kennst, kennst du dich selbst.
    Sprichwort des Talvolks
    Namakan lugte unter dem Dach des Schuppens, in dem sie auf das Ende des Schauers warteten, hervor und zum Himmel hinauf. »Meister?«
    »Ja?«
    »War das dein Ernst?«
    »Was?«
    »Dass wir einen König töten wollen.«
    »Mein bitterster Ernst.« Dalarr strich sich durch den Bart, auf dem einige verirrte Regentropfen glänzten. »Es ist unsere Pflicht. Arvid muss sterben.«
    »Wir sind nur zu zweit.« Es war keine Angst, die aus Namakan sprach, sondern etwas, wofür er keinen Namen kannte. Beim Singen des Klagelieds war das fremde Gefühl in ihm erwacht. Ein Ziehen in der Brust, heiß und kalt zugleich, das ihn zwang, die Hände zu Fäusten zu ballen, und in ihm das Verlangen auslöste, loszulaufen und etwas in tausend Stücke zu schlagen. »Was können wir gegen einen König ausrichten?«
    »Man braucht nur dann ein Heer, wenn man Schlachten gewinnen und ein Reich erobern will«, sagte Dalarr. »Um einen Mann zu töten, braucht man nichts weiter als einen einzigen anderen Mann, der fest entschlossen ist, Blut fließen zu sehen. Und Arvid ist nicht mehr als ein Mann, auch wenn er eine Krone trägt.« Er streckte eine Hand unter dem Dach hervor. »Der Regen lässt nach. Setz deinen Rucksack auf.«
    Während Namakan die Last, die er schon tagelang durch die Berge geschleppt hatte, erneut auf seine Schultern wuchtete, zurrte Dalarr das geheimnisvolle Bündel an seinem eigenen Rucksack fest. Namakan glaubte, ein gedämpftes Klirren zu hören, aber er wagte nicht, seinen Meister noch einmal mit der Frage zu behelligen, was er da ausgegraben hatte.
    Er zog sich seine Kapuze über und folgte Dalarr auf den Hof.
    »Sieh dir alles genau an und bewahre es gut im Gedächtnis«, forderte ihn Dalarr auf und zwang ihn durch einen sanften Druck unter dem Kinn, den Kopf zu heben. »Vergiss nichts. Merk dir, wo das Grab ist. Merk dir jeden Spritzer Blut an den Mauern. Jeden Pfeil in den Balken, jedes zertretene Beet und jede eingeschlagene Tür. Ruf sie dir in Erinnerung, wenn du jemals daran zweifelst, ob wir das Richtige tun.« Er schwieg einen Moment, dann flüsterte er rau: »Und jetzt sag deiner Heimat Lebewohl. Wir kehren nie wieder hierher zurück.«
    »Nie wieder?« Namakan sah zu der in Trümmern liegenden Schmiede, in der er unzählige Stunden damit zugebracht hatte, sich die Schmiedekunst anzueignen. »Was ist mit meiner Prüfung? Ich will doch so werden wie du.«
    »Nein, willst du nicht.« Dalarr wandte sich ab und ging gemessenen Schritts auf den schmalen Pfad zu, der sich auf dem saftigen Grün des Hangs wie eine braune Schlange zum Grund des Tals wand. »Glaub mir, mein Junge, das willst du nicht.«
    Weißer Qualm stieg von dem kleinen Lagerfeuer auf. Er ließ Namakan an einen Strom von Seelen auf ihrem Weg in das Haus des Untrennbaren Paares denken. Dalarr hatte das Feuer an der windgeschützten Seite eines gewaltigen Felsens entzündet, und er hatte unzählige Versuche mit Flintstein und Zunder gebraucht, um die Flammen zum Leben zu erwecken. Das Holz, das Namakan gesammelt hatte, war wegen des Regens feucht und widerspenstig.
    Namakan hingegen hatte sich auf der gesamten Wanderung durch die Täler, an deren Hängen die Immergrünen Almen lagen, brav und schweigsam gegeben. Selbst als ihm aufgefallen war, dass Dalarr jedes Mal, wenn ein Gehöft oder ein Weiler in Sichtweite kam, absichtlich einen weiten Bogen um die Siedlungen machte, hatte er den Mund gehalten. Sogar dann noch, nachdem ihm langsam gedämmert war, wohin sie unterwegs waren.
    Nun jedoch, da sie am Feuer saßen – Namakan so dicht an den Flammen, dass sein Gesicht schon ganz heiß war und ihm der Schweiß auf der Stirn stand, Dalarr mit dem Rücken zum flackernden Schein –, konnte er sich nicht mehr im Zaum halten. »Wie ist die Welt jenseits der Berge?«
    »Groß«, gab Dalarr zurück.
    »Wie finden wir Arvid dann?«
    »Ich weiß, wo sein Palast
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