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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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schlagen hörte. »Genug erzählt«, sagte sie, bemüht, ihre Sorge nicht zu zeigen. Sie deutete auf die Tür zu dem kurzen Gang, der vom Haupthaus in den Anbau führte, wo die Betten der Kinder standen. »Alle rüber! Sofort! Selesa, du siehst zu, dass sich alle waschen. Auch zwischen den Zehen!«
    Es war zu spät. Die Ohren der Halblinge mochten klein und knollig sein, doch inzwischen war das unheimliche Geräusch laut genug geworden, dass es auch den Kindern auffiel.
    »Was ist das?«, fragte Miska ängstlich. »Sind das die Toten?«
    »Hasenschiss!«, antwortete ihr Wutschak im abfälligen Tonfall des altklugen Bruders. »Das sind nur Ponys.«
    Der Junge hatte ein schmutziges Mundwerk, und er war oft arg ungezogen, aber auf den Kopf gefallen war er nicht. Lodaja streifte die Kette um ihren Hals ab und steckte sie Selesa in die Schürze. »Hier! Schließ beide Türen ab!«, wisperte sie dem Mädchen zu. »Mach erst wieder auf, wenn du mich rufen hörst!«
    Selesa wurde blass um die Nasenspitze. »Stimmt etwas nicht?«
    »Geht! Wer als Erstes drüben ist, bekommt morgen früh ein Ei mehr!« Lodaja scheuchte die aufgeregte Kinderschar durch die Tür und wartete, bis sich der Schlüssel von der anderen Seite im Schloss drehte. Dann eilte sie in die Mitte des Raums und lauschte. Nichts. Hatten sie und Wutschak sich etwa getäuscht? Nahten keine Reiter und ihre Sinne hatten ihnen nur einen Streich gespielt? Nein, über das Prasseln der Scheite im Kamin vernahm sie ein Scharren und Schnauben.
    Dann klopfte es an der Vordertür.
    Lodaja zuckte zusammen. Panisch griff sie nach dem Messerchen, mit dem sie vor der Märchenstunde ein paar runzelige Äpfel geschält hatte. Nichts, womit man eine Räuberbande in die Flucht schlagen konnte, aber dennoch besser, als den ungebetenen Gästen völlig wehrlos entgegenzutreten.
    Sie öffnete die Tür.
    Da sie außer ihrem Gatten so viele Sommer lang nur Umgang mit Menschen aus dem Talvolk gehabt hatte, die ihr selten bis an die Brust reichten, überraschte sie die Größe ihres Besuchers. Sie musste erst den Kopf heben, um in ein grausames Antlitz zu schauen, von dem sie inständig gehofft hatte, es wäre für immer in den Nebeln ihrer Vergangenheit verschollen. Wache, blaue Augen, in denen die kalten Flammen eines von Hass und Zorn getriebenen Denkens loderten. Volle Lippen, auf denen sich unablässig ein verächtliches Lächeln anzukündigen schien. Ein kantiges Kinn, das auf einen unbeugsamen, jedes Gesetz der Menschlichkeit missachtenden Willen hinwies. Das Furchtbarste an dieser Erscheinung war jedoch, dass sie in Lodajas Geist dennoch mit solch edlen Regungen wie grenzenloser Zärtlichkeit und unerschütterlicher Treue verknüpft war.
    »Waldur«, raunte sie heiser.
    Sein Plattenpanzer erstrahlte selbst im Licht der einsetzenden Dämmerung in reinstem Weiß, als wäre es einem Meisterschmied gelungen, die Farbe und das Leuchten frischgefallenen Schnees in Metall zu bannen.
    »Lodaja att Situr«, grüßte er sie, setzte den mit Widderhörnern verzierten Helm ab und neigte sein Haupt. »Es ist lange her.«
    Instinkte, die Dutzende von Sommern in Lodaja geschlummert hatten, erwachten angesichts der Bedrohung schlagartig. Sie spähte über Waldurs Schulter und zählte seine Begleiter – raubeinige Gesellen auf massigen Rössern, deren Flanken dampften, weil ihre Reiter sie unnachgiebig angetrieben hatten. Als sie bei zwölf angelangt war, hörte Lodaja auf zu zählen. Es gab kein Entrinnen. Stumm schalt sie sich eine Närrin, nicht umgehend mit den Mündeln geflohen zu sein, als die erste Ahnung sie befallen hatte. Jetzt war es zu spät. Trotzig klammerte sie sich an den Gedanken, dass Waldur hier nicht finden würde, wonach er suchte.
    Sie trat zu ihm hinaus und zog die Tür hinter sich zu. »Wer hat uns verraten?«
    Da brach es sich Bahn, das verächtliche Lächeln auf seinen Lippen. »Ihr selbst. Mir wurden Gerüchte über einen Meisterschmied beim Talvolk zugetragen, der Skaldat so leicht zu schmieden weiß, als wäre es Stahl. Und zu glauben, ein Halbling verstünde sich auf diese Kunst, wäre töricht gewesen.« Die vielen Sommer hatten es nicht geschafft, Falten in seine Haut zu graben. Als er die Hand ausstreckte, um ihr mit den Fingerspitzen über die linke Wange zu streicheln, empfand sie nur Abscheu. »Wie ich sehe, hat er dir ein neues Auge gemacht.«
    Ein silbernes Auge, Ersatz für das, was sie bei ihrer letzten Begegnung mit Waldur eingebüßt hatte …
    Ihr Arm
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