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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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klebt als an jedem Opferstein? Wofür hältst du dich?« Er packte Namakan an der Kapuze seines Umhangs und schüttelte ihn wie einen jungen Hund. »Meinst du, nur weil du gelernt hast, wie man einen Dolch schmiedet, der kürzer ist als mein Gondull, wärst du ein Krieger? Hat sich alles, was ich dir je beigebracht habe, in deinem flachen Schädel in Scheiße verwandelt?«
    Dalarr, dem sein dicklicher Schüler gerade einmal bis über die Hüfte reichte, ließ Namakans Kapuze los und versetzte ihm einen heftigen Stoß vor die Brust. Namakan kippte um, landete platschend im Matsch und stellte fest, dass er sehr wohl noch in der Lage war, Tränen zu vergießen. Heiß rannen sie ihm über die Backen, und er schluchzte laut, als der Damm der Trauer in ihm brach.
    Nie mehr.
    »Hör auf zu flennen, du Waschweib!«, brüllte Dalarr und umfasste in einer weiten Geste das gesamte Gehöft, auf dem so unerbittlich gewütet worden war. »Das macht sie auch nicht wieder lebendig!«
    »Du tust, als wäre es meine Schuld, Meister«, erwiderte Namakan halb bis ins Mark erschüttert, halb von einem schwachen Trotz getrieben. Warum ist er nur so zornig auf mich? Ich habe doch nichts getan.
    Dalarr bedachte ihn mit einem langen Blick voller Verachtung, die nach einem endlosen Moment jäh in etwas umschlug, das Namakan nicht einzuordnen wusste. Ist das Mitleid? Mit wem? Mit mir? Mit den anderen? Nein, das ist kein Mitleid. Das ist Enttäuschung. So schaut er auch, wenn ihm eine Klinge misslingt.
    Schweigend wandte Dalarr sich ab und schritt hinüber zum Anbau, in dem die Betten von Namakan und seinen Geschwistern standen. Er schob barsch die Reste eines Dachbalkens beiseite, der beim Brand vor die Tür gestürzt war, und verschwand im Innern dessen, was von dem Gebäude noch übrig war.
    Auch auf die Gefahr hin, seinen Meister weiter zu reizen, blieb Namakan einfach liegen. Er schloss die Augen und gab sich ganz seiner Verzweiflung hin. Die Nässe des Schlamms kroch unaufhaltsam durch die Wolle seines Umhangs und das Leinen seines Hemds, doch es kümmerte ihn nicht.
    Vielleicht versinke ich im Schlamm und ersticke darin, wenn ich mich nicht bewege. Das wäre gut. Besser, viel besser, als irgendwann wieder aufzustehen. Wenn ich liegen bleibe, bleibt es vielleicht alles nur wie ein Traum. Aber wenn ich aufstehe, dann wird es echt. Dann wird es wahr. Aber es kann nicht wahr sein. Es darf nicht wahr sein. Das ist nur ein Traum, und in Wahrheit ist alles ganz anders. So wie sonst, wenn wir aus den Bergen heimkommen. Tschesch spielt im Hof mit einem ausgeblasenen Ei. Er lacht, als er uns kommen sieht. Er lässt das Ei fallen und krabbelt auf uns zu. Wutschak rennt aus dem Haus, um uns zu fragen, ob wir Skaldat gefunden haben. Er quengelt, weil er es sehen und anfassen will. Es riecht nach frischgebackenem Brot, weil Lodaja immer genau weiß, wann wir wieder da sind. Miska umarmt mich und drückt mir einen Kuss auf die Wange, feucht und eklig, und ich wische ihn weg. Selesa hat einen Kübel Wasser hingestellt, damit ich mir die Füße wärmen kann.
    Nie mehr. Sie sind alle fort. Ich bin allein. Ich bin mit dem Meister allein.
    Als ihm bewusst wurde, dass er nun schon zum zweiten Mal eine Familie verloren hatte, tastete Namakan blind nach dem einzigen greifbaren Zeugnis aus seiner Vergangenheit. Nach dem Ring um seinen Finger. Einem schlichten Reif aus einem blaustichigen Metall.
    Lodaja und Dalarr hatten ihm erzählt, er hätte den Ring schon getragen, als sie ihn eines Morgens vor vielen Wintern bei sich auf der Schwelle abgelegt gefunden hatten – nackt, hilflos und als Erstes der verwaisten oder ausgesetzten Kinder des Talvolks, die im Heim der beiden großen Menschen Aufnahme fanden. Namakan hatte das Kleinod nie abgelegt, weil seine Zieheltern es versäumt hatten, den Ring rechtzeitig zu entfernen, solange er sich noch leicht von seinem Finger abstreifen ließ. Inzwischen wurde er von zwei Hautwülsten gesäumt, doch auf wundersame Weise hatte der Ring ihm nicht das Blut abgeschnitten. Er hatte sich stattdessen Stück für Stück geweitet und bereitete ihm nicht einmal Schmerzen. An guten Tagen hing Namakan daher dem Tagtraum nach, seine wahren Eltern könnten mächtige Magier gewesen sein, die ihren Sohn irgendwann zu sich zurückholen würden – ein Traum, über den er noch nie mit jemandem gesprochen hatte, weil diese Vorstellung albern war. Jeder Trottel wusste doch, dass die Halblinge des Talvolks keine Magier hervorbrachten.
    Als
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