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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter
Autoren: Jonas Wolf
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schoss vor, die kurze Klinge des Messers auf die Stelle in Waldurs Achsel gerichtet, wo ihn keine Rüstung schützte. Er wich ihrem Angriff aus, indem er sich nach vorn warf, sie an der Kehle packte und gegen die Tür schleuderte. Ihr Messerstich ging ins Leere, und im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, als wäre ihr Arm in einem Schraubstock gefangen, weil Waldur ihn zwischen seiner Brustplatte und seiner Armschiene einquetschte.
    »So wild wie eh und je«, keuchte er ihr ins Ohr. »Du hättest mich zu deinem Gatten erwählen sollen, nicht ihn.«
    »Lieber wäre ich gestorben«, schleuderte sie ihm entgegen und versuchte vergeblich, ihm das Knie zwischen die Beine zu rammen.
    »Wo ist er?«, fragte Waldur.
    »Fort«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Du bist umsonst gekommen.«
    »So?« Er hob eine Augenbraue, stieß Lodaja zu Boden und zermalmte ihr Handgelenk unter dem Absatz seines schweren Stiefels. Sie schrie auf und spürte trotz des Schmerzes, der ihr die Tränen in die Augen und einen heiseren Schrei aus der Kehle trieb, wie sich die Finger um den Griff ihres Messers lösten. »Mag sein, dass er nicht hier ist. Aber es gibt einen Weg, wie ich ihn zu mir rufe.« Ohne den Fuß zu heben, wandte Waldur sich seiner Horde zu. »Brennt alles nieder!«, befahl er.
    »Nein!«, kreischte Lodaja, bäumte sich auf und krallte die gesunde Hand in seinen Waffengürtel. Er hieb ihr die Faust gegen die Schläfe.
    Während ihr blitzende Sterne vor den Augen tanzten, musste Lodaja mit ansehen, wie die Reiter unter lautem Rufen Pfeile aus den Köchern an ihren Sätteln zückten.
    »Skra Gul! Skra Gul!«, brüllten sie, und die Spitzen ihrer Geschosse entzündeten sich zu grellen, weißen Flammen.
    Wie ein Schwarm Sterne stiegen die Pfeile in den düsteren Himmel – hoch, hoch hinauf, bis sie den Gesetzen der Welt folgten und sich in die strohgedeckten Dächer des Gehöfts bohrten, wo das Feuer reichlich Nahrung fand.
    »Erschlagt alle!«, wies Waldur seine Mordbrenner an und zog sein Schwert.
    Überrascht stellte Lodaja fest, wie scharf die Klinge war – sie spürte keinen Schmerz, nur einen festen Druck, als die Spitze ihr Herz durchstach. Ein eisiger Schrecken breitete sich in ihr aus, als sie erkannte, dass der Unendliche bestimmt hatte, sie durch Waldurs Hand in die Stille Leere zu holen.
    Dennoch war ihr letzter Gedanke einer, der ihr Trost auf diesem schweren Weg spendete: Das Massaker an ihren unschuldigen Mündeln würde nicht lange ungesühnt bleiben. Mit seiner Schandtat hatte Waldur einen dunklen Sturm entfesselt – einen dunklen Sturm der Rache, der ebenso wenig Gnade kannte wie er selbst.

1
    Von allen Formen der Trauer ist die die höchste, aus der die Sehnsucht nach Vergeltung erwächst.
    Aus den Lehren des Alten Geschlechts
    Namakan kniete im Schlamm, niedergezwungen von einem Grauen, das sich überall um ihn herum zeigte, ganz gleich, wohin er seinen Blick auch wandte.
    Die Mauern des ausgebrannten Gehöfts waren rußgeschwärzt, als wären die Schatten all derer, die die Flammen ihm genommen hatten, in den Stein gebannt.
    Die undankbaren Ziegen waren durch das aufgestoßene Gatter ihres Geheges gelaufen, um zwischen den Leichen ihrer Hirten an den wenigen Büscheln Gras zu zupfen, die nicht unter gewaltigen Hufen zerstampft worden waren.
    Unter einem Fenster lag ein verkohltes Bündel, bei dem es sich am Morgen, als Namakan mit seinem Meister zum Skaldatschürfen in die Berge gezogen war, noch um sein jüngstes Ziehgeschwister gehandelt hatte.
    Warum schreie ich nicht? Warum weine ich nicht einmal still? Ein Teil von Namakan wollte es, doch nichts an seinem Körper und in seinem Fühlen gehorchte ihm mehr. Als wäre ein riesiges Stück seiner Seele aus ihrer stofflichen Hülle an einen Ort gerissen worden, wo eine Kälte herrschte, die sämtliche Regungen in ihr lähmte. Erst nach und nach fand sie ihren Weg an den angestammten Platz in seinem Herzen zurück, heimgeholt durch Erkenntnisse, deren Endgültigkeit so gewaltig war, dass Namakans sonst so flinker Geist ihnen mit quälender Trägheit begegnete.
    Nie mehr. Wutschak wird nachts nie mehr zu mir unter die Decke kriechen, wenn er schlecht geträumt hat und sich vor Dämonen und Zauberern fürchtet.
    Wie auch, mit einem Schädel, der von einer Axt oder einem Schwert vom Scheitel bis zur Nasenwurzel gespalten war?
    Nie mehr. Ich werde mir nie mehr von Selesa anhören müssen, dass ich mir ja ordentlich die Sohlen schrubben soll, wenn ich neben
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