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Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)

Titel: Heimlich, heimlich mich vergiss (German Edition)
Autoren: Angelika Meier
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dankbar atme ich die trockene heiße Luft ein. Esther ist gottseidank auch schon wieder von ihrem Pinkelexkurs zurück, schaut, mir den Rücken zugewandt, aufs Wasser, und erleichtert schleiche ich mich an sie heran und beiße ihr scherzhaft in den Po.
    Zum ersten Mal, seit wir Kertsch verlassen haben, lachen wir gelöst, torkeln mit einander über die Schultern gelegten Armen in glücklicher Schieflage ziellos über den weitläufigen Promenadenplatz, als wollten wir uns schon mal auf die vor uns liegende Seekrankheit einstimmen, und Esther fragt leichthin:
    »Hat’s geklappt? Hast du die Tickets bekommen?«
    »Jawohl, Käpt’n, habe ich«, ich bleibe stehen, klopfe mir zweimal auf die Hemdtasche links auf der Brust, als wolle ich meinen guten alten Herzschlag nachmachen. »Hier drin habe ich sie, zusammen mit dem schönen schmutzigen Bild von deinem durchsichtigen Thorax.«
    »Das Röntgenbild? Das hast du noch?« Sie lächelt abwechselnd amüsiert und verlegen gerührt, zieht dann aber plötzlich die Stirn in Falten und fragt leise: »Willst du es nicht lieber wegwerfen, Franz?«
    »Nein, will ich nicht. Warum sollte ich unseren Anfang wegwerfen?«
    »Ich hab nicht gesagt, dass du unseren Anfang wegwerfen sollst, nur das Bild vom Anfang.«
    »Warum?«
    »Ich weiß nicht«, sie zuckt unschlüssig die Achseln, »diesen ganzen Ballast …«
    »Welchen ganzen Ballast?« Ich lache auf. »Ich will dieses eine Bild mitnehmen, sonst nichts. Du tust so, als wollte ich dutzendweise Kisten auf das Schiff …«
    »Jaja … schon gut.«
    »Worum geht’s hier?« Sie antwortet nicht, blickt schräg neben mir zu Boden, und ich schüttle sie leicht am Ellbogen. »Hm?«
    »Es ist nur, weil … wie soll ich das sagen«, sie schluckt ein paar Tränen runter, hebt den Kopf zwar, aber pendelt ausweichend mit ihm hin und her, »weil du nicht gut umgehen kannst mit diesen … mit solchen Bildern. Wenn es all diese Durchleuchtungen nicht gegeben hätte …, ich weiß nicht … die Art, wie du nie genug kriegen konntest von all den PETs und fMRTs, EEGs und MEGs, wie du jeden Dreck lesen musstest und ihnen auch von dir bereitwillig jedes Bild geliefert hast … Und diese fixe Idee, ihnen irgendwann einen Schritt voraus sein zu können, und immer wolltest du noch mehr, noch neuere …«
    »Das stimmt, aber das ist vorbei. Ich bin endgültig kuriert von der fixen Idee neuer Bilder von uns. Ich will keine verschlungenen Linien mehr lesen, glaub mir. Und falls doch, dann nur, um irgendwann übers Lesen hinauszugeraten. Aber dieses Röntgenbild von dir hat mit all dem sowieso nichts zu tun, auf dem gibt es gar nichts zu lesen. Und ich habe auch nie versucht, es zu lesen, wirklich nicht.«
    Sie legt noch immer skeptisch den Kopf schräg. Ich streiche ihre Stirn glatt:
    »Das Bild ist unser Anfang, aber kein Bild von unserem Anfang. Das habe ich mittlerweile verstanden, auch wenn ich lange dafür gebraucht habe. Aber zwanzig Jahre Buße sind doch vielleicht genug, meinst du nicht?«
    »Was?«
    »Weißt du, es ist so … – ach, es spielt keine Rolle!«
    »Na schön«, ihr Gesicht klart wieder auf und sie küsst mich. »Aber sag nicht, du seiest kuriert. Leute wie wir sind niemals kuriert.«
    »Ja, du hast recht.«
    Wie zur Bekräftigung dieser Einsicht ertönt hinter uns das laute und wehmütig langgezogene Tuten des Nebelhorns, mit dem die Fähre überflüssigerweise die gute Nachricht von ihrer Hafeneinfahrt in den strahlend blauen Himmel hinausposaunt.

53.
    Kaum haben wir uns umgedreht, hat die Fähre schon angelegt, und über die Gangway ergießt sich ein Schwall von aufgeregt schnatternden Patienten an Land. In einer Doppelreihe strömen sie wie eine lebendig gewordene Mole an uns vorbei auf die Schalterhalle zu, um ihre Ankunft legitimieren zu lassen. Es müssen Hunderte sein, und in wohlwollender Indifferenz lassen wir sie an uns vorüberziehen, als einen Film, von dem man die Augen nicht abwenden kann, einfach nur, weil sich das Bild vor einem eben bewegt, während man selbst stillsteht.
    Als die Menschenmole im Hafengebäude verschwunden ist, starren wir noch ein Weilchen auf das Schlussbild der nun wieder stillstehenden Drehtür der Schalterhalle, dann wenden wir uns in die Gegenrichtung zur Fähre. Die gelbe Sanitätsflagge flattert am Vordermast fröhlich über der weißen Klinikflagge, als wolle sie uns zur Eile drängen.
    An Bord erwartet uns bereits ein Steward, er lässt sich unsere Tickets zeigen und studiert sie eine ganze
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