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Heimkehr

Heimkehr

Titel: Heimkehr
Autoren: Richard Bach
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Kindheit loszuwerden, es war eine Last. Ich habe dich daran gehindert. Ich wollte nicht sterben in meiner Behausung, und ich wollte dich nicht gehen lassen. Aber du hast die Tür geöffnet. Ein bißchen spät, aber du hast sie geöffnet. Ich danke dir für den Regen in meiner Wüste.«
    »Geh nicht«, sagte ich. »Wir sind Freunde.«
    »Richard, du bist fast sechzig! Möchtest du nicht weiterlernen? Möchtest du nicht das überflüssige Gepäck loswerden? Deine Kindheit ist eine Last, ich weiß, wie du dich ihrer entledigen kannst!«
    »Wie alt bin ich?« fragte ich.
    »Du bist fast sechzig. Ich bin neun, und du bist mir fünfzig Jahre voraus. Du bist fast sechzig.« Bedeutete sein Lächeln, daß er sich jetzt unabhängig fühlte?
    »Ich glaube nicht an die neun Jahre, das weißt du. Ich glaube nicht an die sechzig Jahre. Wir sind keine Geschöpfe, die von der Zeit abhängig sind…«
    Er blickte mich nachsichtig an, als ob ich ein Kind wäre.
    »Dickie«, sagte ich. Völkerball, Schach, Florett–, Degen– oder Säbelfechten, Leichtathletik, Poolbillard oder Schießstand. Wähle neunzehn Jahre. Oder achtundzwanzig? Vierzig. Ich weihe dich in jedes beliebige Alter ein, das du willst, und ich schwöre dir… Ich werde dir zeigen, was eine Harke ist. Was soll denn ›fast sechzig‹ eigentlich bedeuten?«
    Er beobachtete mich einen kurzen Augenblick lang und lächelte wieder. Der Junge war mehr ein Freund als ein Kind. Dann geschah etwas hinter seinen Augen. Es war, als ob eine Uhr geschlagen hätte und seine Zeit abgelaufen wäre. Er dankte mir mit einem Kopfnicken und revidierte seine Entscheidung.
    »Sechzig Jahre,« sagte er, »sind eine zu lange Zeit, um
    die Kindheit, an die du dich kaum erinnerst, weiter mit dir herumzuschleppen. Gestatte mir diesen Liebesdienst. Laß mich diese Last von dir nehmen. Und wir gehen beide unserer Wege.«

39
     
    Leslie ließ ihr Buch sinken: ›Sanfte Methoden, um Gartenschädlinge zu vertreiben‹. »Was geht dir durch den Kopf? Worüber machst du dir Sorgen?«
    Ich lag neben ihr im Bett und starrte zur Decke. »Nichts. Ich denke gerade über etwas nach.«
    »Oh, in Ordnung«, sagte sie und setzte ihre Lektüre fort.
    Ich hatte beschlossen, Dickies Entscheidung erst zu erwähnen, wenn ich damit fertiggeworden war und ich eine weitere Stunde, oder auch zehn, damit verbracht hatte, die seltsame Freundschaft Revue passieren zu lassen. Ich grübelte darüber nach, warum sie mir soviel bedeutet hatte und was noch alles hätte geschehen können, wenn er nicht fortgegangen wäre.
    So wie er es vorausgesagt hatte, fühlte ich mich ohne die alte Kindheit, die mich ständig begleitet hatte, leichter. Die Zweifel, die jahrzehntelang an mir genagt hatten, waren verschwunden. Mich quälte nicht mehr der Gedanke, etwas Wichtiges verdrängt zu haben. Mit Dickies Hilfe hatte ich jene Zeit hinter mir gelassen.
    »Ein rasches Studium«, bemerkte Leslie, die immer noch ihr Buch las.
    »Wer?«
    »Dickie«, sagte sie. »Er hat alles, was er wollte, von dir gelernt. Ist er nun fort?«
    »Wieso nimmst du das an?«
    »Ich habe einfach geraten«, erwiderte sie. »Ich müßte doch aus Stein sein, wenn ich deine Wellen des Kummers-über-das-Unausgefülltsein nicht wahrnehmen würde.«
    Es wird schön sein, wenn ich eines Tages ein völlig durchdachtes und geregeltes Abenteuer haben werde und dann den Zeitpunkt selbst bestimme, wenn ich meiner Frau den Anfang, die Mitte und den Schluß erzähle. Das wird, dachte ich, erst dann geschehen, wenn die Hölle vereist.
    »Nun ja.«
    »Ist er gekommen, um etwas zu geben oder etwas zu nehmen?« Ihre Frage klang so, als hätte sie die Antwort schon parat.
    »Er wollte etwas lernen«, sagte ich, »und es machte mir Spaß, ihm etwas beizubringen. Nun weiß er über alles Bescheid, und es liegt an ihm, was er mit seinem Wissen anfangen wird. Ich kann ihm nur meine eigene Zukunftsvariante anbieten.«
    »Mehr hast du ihm nicht bedeutet?« Das hörte sich wie eine Feststellung an. »Vermißt du ihn?«
    »Ich glaube nicht«, erwiderte ich. »Ich werde ihn in Erinnerung behalten. Ich werde an ihn denken.«
    Sie lächelte über meine Art. »War es für dich eine schwere Zeit, ihn zu lehren, jedes menschliche Gefühl durch Vernunft zu ersetzen, oder hat er dies ebenfalls rasch gelernt?«
    »Oh, Wookie, sei nicht albern! Ich bin nun mal ein Vernunftmensch, ich werde mein Wesen nicht so bald ändern, du wärst verloren, wenn ich das täte. Wir beide gleichen uns auf unserer
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