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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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erschöpft. »Sie tun es einfach. Sie verfügen über sich und beenden ihr Leben. Dazu bedarf es einer enormen Willensanstrengung.«
    »Sie hätten mich ihr nachklettern lassen sollen.«
    Helene schmetterte das Fenster zu. »Ich bin für Sie verantwortlich. Sie stehen unter Arrest. Sie klettern nirgendwo hin, und Sie bringen sich auch nicht um. Setzen Sie sich!«
    Plato richtete sich auf und bellte. Helene fasste ihn beim Halsband. »Arme Kids«, sagte sie und wischte sich die Augen. »Wir müssen ihnen ihren Willen lassen. Es gibt keine Alternative ... Arme Kids, das sind doch auch bloß Menschen.«
    Maya ohrfeigte sie.
    Helene riss erstaunt die Augen auf, dann wandte sie ihr langsam die andere Wange zu. »Geht es Ihnen jetzt besser, Schätzchen? Dann nehmen Sie auch noch die andere.«

6
     
    In Amerika hatte sich die Eisenbahn nie so recht durchgesetzt. Amerika war seit jeher besessen vom Individualverkehr. Einen Wagen konnte Maya sich nicht leisten. Hin und wieder trampte sie. Den Rest des Weges legte sie zu Fuß zurück.
    Und so wanderte sie durchs ländliche Pennsylvania. Mittlerweile hatte sie den einfachen körperlichen Vorgang des einen Fuß vor den anderen Setzens lieb gewonnen. Sie mochte die Klarheit des Gehens, das einen außerhalb der Regeln stellte und tief in eine fassbare, unmittelbare Welt hineinversetzte. Das Gehen kostete nichts und hinterließ keine Spuren. Eine angenehme, stille Art, von anderer Leute dummer offizieller Landkarte zu verschwinden.
    Sie hatte einen Sonnenhut und einen Rucksack mit Kleidung zum Wechseln dabei. Sie hatte eine billige Kamera. Sie hatte eine Feldflasche und ein wenig Proviant; die Art Nahrung, an der man eine Weile zu kauen hatte. Sie trug altes, aber äußerst solide gefertigtes und nahezu unzerstörbares Schuhwerk. Und niemand störte sie. Sie war allein, ganz auf sich gestellt. Um ganz allmählich zu sich zu kommen, ohne dass ihr jemand dabei zuschaute und ihren Herzschlag zählte, um die unendliche Gegenwärtigkeit der Welt zu genießen, um sich von der Umklammerung des Alltäglichen zu befreien - was eine stete Folge kleiner Überraschungen nach sich zog.
    Pennsylvania gefiel ihr, weil um diese Gegend so wenig Aufhebens gemacht wurde. Solche Orte zog sie inzwischen vor. Die hektischen, schicken Orte waren alle zu kalt. Natürlich war es schwer, in einer Zeit, da die Gesetze, der größte Teil der Medien und auch der Kunst übers Netz zugänglich waren, einen echten Zufluchtsort zu finden; die Orte aber, die am alltäglichsten wirkten, waren für ein exotisches Monster voller Hoffnungen wie sie am besten geeignet.
    Europa war eine Boutique. Amerika war eine Farm. Hin und wieder traf man im ländlichen Pennsylvania auf Radfahrer. Oder auf Anhalter. Es gab nicht viele wie sie, Menschen, die vom Gehen und vom Schauen verzaubert waren. Dies war keine beliebte Touristennische des nordamerikanischen Kontinents, nur die hier ansässigen Amischen weckten ein gewisses Interesse.
    Außerhalb von Perkasie fuhr ein Wagen an ihr vorbei. Der Wagen hielt am Straßenrand, und zwei gut gekleidete indonesische Touristen stiegen aus. Sie schulterten nagelneue Rucksäcke und machten sich auf den Weg. Sie schritten eilig aus. Maya, die sich von niemandem mehr zur Eile antreiben ließ, stapfte unverdrossen weiter.
    Als die beiden näher kamen, zupfte der Mann die Frau am Ärmel. Sie winkten hektisch, dann riefen sie etwas.
    Maya blieb stehen und wartete auf sie. »Ciao«, sagte sie wachsam.
    »Hallo?«, sagte die Frau.
    Maya musterte die beiden verblüfft. Der Fremde trug ziemlich neue und schicke indonesische Modekleidung, die Fremde aber war Amerikanerin. Maya kannte sie, und nicht nur von ferne. Wie sie so schaute, kam sie sich unglaublich wichtig vor, wie eine Person mit einem Schicksal. Maya wurde überwältigt von übersinnlichem Wiedererkennen, von Zärtlichkeit und Schmerz. Sie schnappte nach Luft, als sei ein Engel zur Erde herabgestiegen.
    »Bist du Mia Ziemann?«, fragte der Mann.
    Maya klappte den Mund zu und schüttelte vehement den Kopf. »Ich bin Maya.«
    »Was hast du dann mit meiner Mutter gemacht?«, fragte die Frau.
    Maya starrte sie an. »Chloe!«
    Chloe riss die Augen auf. Sie entspannte sich ein wenig und rang sich ein Lächeln ab. »Mom, ich bin’s.«
    »Kein Wunder, dass ich dich so sehr liebe«, sagte Maya erleichtert und lachte.
    Es war komisch, dass sie so viel verloren hatte und dass es so wenig bedeutete. Die Einzelheiten verschwammen, entzogen sich ihr,
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