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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer
Autoren: Bruce Sterling
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virtuellen Raums - freilich mit Ausnahme des festen Bodens unter ihren Füßen und der Decke mit dem insektenhaften Gewirr der Detektoren, Überwachungs- und Aufzeichnungsgeräte.
    Der Vorhang bestand aus Glasfaser, aus tausenden haardünnen, bunten Glasleitern. Gesteuert von den Signalen ihrer falschen Wimpern, leuchtete der Vorhang auf und projizierte seine Bilder, wo immer Mias Blick zur Ruhe kam. Wohin ihr Blick sich auch bewegte, der Vorhang war ihr stets voraus, leuchtete auf und erzeugte im Bruchteil einer Sekunde ein Bild, sodass es den Anschein hatte, als hülle die Illusion sie von allen Seiten ein.
    Mia tastete nach dem Stecker und verband ihn mit dem Touchpad. Das Steuergerät des Vorhangs erkannte das kleinere Gerät und hüllte Mia sogleich in die 360-Grad-Projektion eines Touchpads, ein virtueller, rauchgrauer Abgrund. Mia tippte mit den behandschuhten Fingerspitzen auf dem Touchscreen herum, bis ein paar nützliche Anzeigen aus der glasigen Tiefe hervortauchten: ein rundes Tachometer, eine Uhr, ein Netzwerkwähler.
    Sie wählte einen der größeren öffentlichen Netzzugänge von San Francisco aus, hielt den Atem an und gab Martin Warshaws Passgeste ein. Die Wand gab die Bewegungen ihrer behandschuhten Fingerspitze akkurat wieder, tiefschwarze Hieroglyphen vor dem Hintergrund des grauen Gewebes.
    Die Berührungsspuren verblassten. Der Vorhang färbte sich wieder himmelblau. Anschließend passierte nicht mehr viel. Das kleine Tachometer zeigte an, dass irgendwo in der Tiefe des Netzes eifrig gerechnet wurde. Mia wartete geduldig.
    Nach acht Minuten verschwand das Tachometer. Die Wände wurden weltraumschwarz, dann auf einmal baute sich ein normalgroßes Umgebungsbild auf.
    Mia befand sich in einem Architekturbüro, darin ein großer Schreibtisch mit künstlicher Maserung, grell funkelnde Messinglampen und algorithmische Wirbel simulierten Marmors. Die Sessel waren dick gepolstert und wirkten so, als ob man darin versinken könne. Sessel für alte Leute. Die Art Sessel, wie sie Top-Möbeldesigner in den Siebzigern entworfen hatten, als ihnen auf einmal bewusst geworden war, dass alte Menschen über alles Geld der Welt verfügten und dass es von nun an bis ans Ende aller Zeiten auch im Besitz alter Menschen bleiben würde.
    Das virtuelle Büro war mit feiner Ironie so gestaltet worden, dass es dem Büro eines klassischen Architekten ähnelte. Architekten, die statt virtueller Strukturen reale Gebäude entwarfen, neigten dazu, ihre intime Beziehung zur physischen Realität aufdringlich zu betonen. Mia war umgeben von Korktafeln, Schiefertafeln, Stiften, Zeichenpapier. Alles analog und berührbar. Kein einziger Bildschirm war zu sehen. Mal abgesehen davon, dass diese ganze virtuelle Umgebung in sich ein Bildschirm war.
    Es bestand eine große Diskrepanz zwischen Martin Warshaws raffiniertem Erinnerungspalast und diesem willkürlich ausgewählten und ein wenig schäbigen Vorhanggerät. Vor dem Hintergrund der runden Gewebewände wirkten die Ecken des virtuellen Raums ziemlich hässlich, voller visueller Verzerrungen, die einem auf den Magen schlugen. Die Simulation wusste offenbar nicht so recht, wo sie den Boden hintun sollte. Die Bodenränder bogen sich empor wie die Seitenwände eines sinkenden Ruderboots.
    Ein simuliertes Fenster in der einen Wand bot Ausblick in einen Garten, doch die organischen Formen waren katastrophal schlecht. Die Bäume waren alberne vage Flecken, die albtraumhafte Vision einer röntgenbestrahlten Vegetation unter dem Licht einer fremden Sonne, das so dick wie Käse war. Das Innere des Büros war vollgestopft mit virtuellen Topfpflanzen, deren große gezackte Blätter so steif und leblos wie Waffeleisen wirkten.
    Mia schaute sich aufmerksam in dem virtuellen Büro um. An der linken Wand hing ein riesiger gerahmter Bauplan. Er stellte ein großes, vielstöckiges Gebäude dar - wahrscheinlich der Grundriss des Erinnerungspalasts. Die Pläne waren mit zahlreichen Anmerkungen in Form fürchterlich verschwommener, winziger Druckbuchstaben versehen. Der Palast wirkte riesig, wohldurchdacht und ziemlich einschüchternd. Mia fühlte sich, als habe sie ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt und festgestellt, dass es sich um eine vollständige Dampflokomotive handelte. Um einen tonnenschweren, mit Kohle befeuerten virtuellen Springteufel.
    Sie wandte sich wieder in die Mitte des Zimmers um. Auf dem holzgemaserten Schreibtisch stand ein einzelnes gerahmtes Foto. Mia machte Schrittbewegungen und
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