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Heidelberger Requiem

Heidelberger Requiem

Titel: Heidelberger Requiem
Autoren: Wolfgang Burger
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für nichts als die Zeit. Ich hätte alles dafür gegeben, weglaufen zu dürfen. Allmählich versiegten Frau Grotheers stille Tränen.
    Sylvia räusperte sich dreimal. »Ich … Wir haben mit so etwas gerechnet. Irgendwann«, murmelte sie. »Es lag doch auf der Hand.«
    Ich schlug die Beine übereinander, um zu demonstrieren, dass ich Zeit hatte. Mit leiser, aber fester Stimme erzählte sie, ihr Bruder habe an seinem achtzehnten Geburtstag das elterliche Haus verlassen, nach zahllosen wüsten Streitereien. Schon damals hatte er über mehr Geld verfügt, als er hätte haben dürfen. Die Wohnung im Emmertsgrund war nicht gekauft, sondern gemietet, der Ferrari gebraucht, aber anscheinend bar bezahlt. Der Wagen kostete zweihundertfünfzig Euro Versicherung.
    »Im Monat! Er hat’s mir mal erzählt. So viel Geld verdient man doch nicht nebenbei durch Jobben!«
    »Sie haben eine Vermutung, woher das Geld stammt?«
    »Sie etwa nicht?«
    »Doch, natürlich. Wir tippen auf Drogenhandel. Wir wissen nur noch nicht, in welchem Umfang. Hat er tatsächlich studiert?«
    »Ja, Chemie.« Sie hob die rundlichen Schultern. »Zwei oder drei Mal hab ich ihn sogar an der Uni getroffen. Kann natürlich auch sein, dass er …« Sie schluckte.
    »Dass er dort gedealt hat?«, half ich nach.
    »Obwohl ich immer dachte, er macht das mehr im großen Stil. Durch Kleindealerei kommt man mit einiger Mühe zu seinem täglichen Schuss. Aber wohl kaum zu einem Ferrari.«
    Da war was dran.
    »Ich glaube, …« Wieder verstummte sie.
    »Was glauben Sie?«, fragte Vangelis leise. Die ersten Worte, die sie sprach, seit wir dieses Haus betreten hatten.
    »Nein, eigentlich bin ich mir sicher.« Sylvia Grotheer sprang auf und begann, mit den Händen auf dem Rücken hin und her zu gehen. »Er hat dieses Teufelszeug hergestellt. Das ist nicht weiter schwierig, wenn man ein bisschen was von Chemie versteht. Die Rohstoffe bekommt man problemlos im Chemikalien-Fachhandel. Der Rest …« Mit dem Rücken zu uns blieb sie an der Terrassentür stehen.
    »Der Rest?« Vangelis beobachtete die Zeugin aufmerksam.
    »Ein paar Reagenzgläschen, ein Bunsenbrenner, ein Liebigkühler. Das Problem dürfte eher der Vertrieb sein. Und die Konkurrenz natürlich oder die … Geschäftspartner, wie man ja nun sieht.«
    »Entschuldigen Sie die offene Frage. Sie sind nicht besonders traurig darüber, dass Ihr Bruder tot ist?«, fragte ich.
    Sie wandte sich nicht einmal um. »Er hat meine Mutter fast umgebracht!«
    »Wie das?«
    Ich erhielt keine Antwort. Aber ich verstand auch so.
    »Im Grunde ist es ein Wunder, dass er das so lange unbehelligt machen konnte. Dass die Konkurrenz ihn so lange hat gewähren lassen. Man muss unglaubliche Gewinnspannen erzielen können mit diesem Gift, und man braucht ja nur die Zeitung zu lesen.« Sie fuhr herum. »Es war nur eine Frage der Zeit, nicht wahr?«
    Ich gab ihr wortlos Recht. »Wann haben Sie Ihren Bruder zum letzten Mal gesehen?«
    »Vorige Woche, Montag. Da war er in der Klinik. Er wollte zu Pa.«
    Ich brauchte einen Augenblick, um meine Gedanken zu sortieren. »Und Sie waren zu diesem Zeitpunkt zufällig auch in der Klinik?«
    Inzwischen hatte sie sich wieder völlig gefangen. Die Grotheers schienen hart im Nehmen zu sein.
    »Nicht zufällig. Ich mache meine Doktorarbeit dort.«
    »Können Sie uns sagen, was er von Ihrem Vater wollte?«
    »Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Fragen Sie Frau Schmitz.«
    »Frau Schmitz?«
    »Frau Doktor Schmitz«, erklärte Frau Grotheer mit ihrer sanften, teilnahmslosen Stimme. »Seine rechte Hand.«
    »Und die linke meistens auch«, fügte Sylvia hinzu. »Pa ist so viel unterwegs. Jemand muss den Laden ja schmeißen.«

4
    Die leitende Oberärztin Dr. med. habil. Marianne Schmitz war eine große, energiegeladene Blonde. Sie trat in den Raum, als käme sie eben von einem Dünenspaziergang im Novembersturm. Frisch, strahlend gelaunt und tatendurstig. Wie uns die erschöpfte Stationsschwester zuvor anvertraut hatte, war ihre Chefin seit vierzehn Stunden ununterbrochen im Dienst. Durch die Urlaubszeit und die Abwesenheit des Chefs hatte sich die chronische Personalknappheit der unfallchirurgischen Abteilung noch weiter verschärft.
    Sylvia Grotheer verabschiedete sich mit einem verlegenen Lächeln. »Ich bin drüben im Tumor-Genetik-Labor des Krebsforschungszentrums, falls Sie mich noch brauchen.«
    Wie immer in den letzten Monaten fiel mein erster Blick auf die Hände der Blonden, auf der automatischen Suche
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