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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah
Autoren: Julia Crouch
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dunkelhaarigen Geschwistern, sah Jack aus wie ein kleiner rothaariger Engel, der ihnen zugeflogen war. Wäre er nicht das exakte Ebenbild seines Vaters gewesen, hätte man niemals vermutet, dass er aus demselben Genpool stammte wie Bella und Olly. Zwischen den Geschwistern lag ein Abstand von elf Jahren. Erst kürzlich hatte Marcus gescherzt, Jack sei der Fehler, den sie nicht ausgemerzt hätten: ihr glücklicher Betriebsunfall.
    Lara drehte sich wieder nach vorn zur Straße und versuchte, Freude am Komfort des Wagens zu finden. Zwischen seinem makellos gepflegten Innenraum und ihrem zerbeulten, verdreckten Volvo daheim in England lagen ganze Welten. So fühlt es sich vielleicht an, wenn man Amerikaner ist, dachte sie. Oder zumindest arriviert. Der Wagen war riesig, ein Oberklassemodell – am Avis-Schalter in Newark hatte man sie mit einem kostenlosen Update überrascht. Das ursprünglich gebuchte Fahrzeug hatte bereits an der Obergrenze dessen gelegen, was Marcus auszugeben bereit gewesen war, und sie mussten weiß Gott auf jeden Penny achten. Trotzdem wäre es für alle fünf inklusive Koffern, Handgepäck, Jacks altem Buggy – den Lara für extreme Hitze oder lange Fußmärsche mitgenommen hatte – und Ollys Gitarre ziemlich eng geworden. Sie selbst hatte bei der Online-Reservierung für ein größeres Modell plädiert, doch Marcus war unnachgiebig geblieben, obwohl sie beide wussten, dass er, wenn man alles zwischen ihnen aufrechnete, einiges gutzumachen hatte. Nun war sie froh, dass eine unsichtbare Hand interveniert und ihr ihren Wunsch in Form dieses Schlachtschiffs erfüllt hatte.
    Allerdings würde sie nicht den Fehler machen, sich daran zu gewöhnen. Marcus war nämlich fest entschlossen, den Mietwagen – ganz egal, welchen – nach einer Woche im nächstgelegenen Mietwagenbüro zurückzugeben. Das Gratis-Update änderte an seiner Haltung nicht das Geringste.
    »Bestimmt wird sich früher oder später was ergeben. Irgendwie kommen wir schon an einen billigen fahrbaren Untersatz«, sagte er und legte seinen ganzen Schauspieler-Charme in sein Augenzwinkern.
    Doch bis dahin würde Lara dieses perlgraue Ungetüm genießen: eine Illusion von Luxus, bezahlt mit Plastik.
    Sie streckte die Beine im geräumigen Fußraum aus und bemühte sich, wach zu bleiben. Marcus fuhr vom Palisades Parkway ab und weiter in Richtung Norden, an einer Reihe gigantischer Werbetafeln vorbei, die auf Englisch und in einer Sprache, von der Lara annahm, dass es sich um Hebräisch handeln musste, das »Rundum-Ferienerlebnis in den Catskills« anpriesen. Dann waren sie plötzlich von dunklem Wald umgeben.
    Nach einer weiteren Stunde wies Lara, die im Schein der Handschuhfachbeleuchtung James’ Wegbeschreibung studierte, Marcus an, den Highway zu verlassen. Sie fuhren weiter, immer höher in die Berge, immer tiefer in die Nacht hinein. Nur selten kamen sie an schwach beleuchteten Siedlungen vorbei. Dann passierten sie stille, von Schindelholzhäusern gesäumte Straßen und überquerten menschenleere Kreuzungen mit geheimnisvollen orangefarbenen Blinklichtern, die, so kamen Lara und Marcus nach kurzer Unterredung überein, so viel wie »Achtung« bedeuten mussten.
    Inzwischen waren alle drei Kinder eingeschlafen. Ollys leises Schnarchen und der bernsteinfarbene Schein vom Armaturenbrett weckten in Lara den Wunsch, sich zusammenzurollen und es ihnen gleichzutun. In ihren Ohren knackte es, so hoch waren sie inzwischen in den Bergen.
    Marcus gähnte.
    »Kannst du noch fahren?«, fragte Lara über die Kluft zwischen den zwei Vordersitzen hinweg.
    »Ich werd’s schon irgendwie hinkriegen«, antwortete er. »Such mir mal einen schönen amerikanischen Radiosender, vielleicht hält der mich wach.«
    Lara beugte sich nach vorn, drückte diverse Knöpfe am großen Bedienfeld der Musikanlage und blieb schließlich bei einem evangelikalen christlichen Sender hängen. Belustigt hörten sie eine Zeitlang einem Prediger zu, der mit überschnappender Stimme seine Ansichten zur Nächstenliebe kundtat und darlegte, wie sich der Fluch der Sodomie ausmerzen ließe. Lara amüsierte sich prächtig, bis die Predigt sich dem Thema Abtreibung zuwandte, woraufhin sie zu einem Sender namens W-ZEETEE  101 wechselte. Der spielte hintereinander mehrere Country-Klassiker, unterbrochen von erfreulich wenig Country-Geschwätz. Marcus sang laut und falsch mit, und Lara überließ sich endlich dem Schlaf.
    Ein seltsames Gefühl des Stillstands weckte sie aus
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