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Hill, Susan

Hill, Susan

Titel: Hill, Susan
Autoren: Der Menschen dunkles Sehnen: Kriminalroman (German Edition)
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Das Tonband
Letzte Woche habe ich einen Brief von dir gefunden. Ich dachte, ich hätte keinen einzigen aufgehoben. Ich dachte, ich hätte alles von dir vernichtet. Aber diesen einen habe ich offenbar übersehen. Ich habe ihn zwischen Steuererklärungen gefunden, die älter als sieben Jahre waren und daher weggeworfen werden konnten. Ich wollte den Brief nicht lesen. Kaum sah ich deine Handschrift, wurde mir übel. Ich warf den Brief in den Mülleimer. Aber später habe ich ihn wieder herausgeholt und ihn gelesen. Darin hast du dich mehrfach beschwert, dass ich dir nie etwas erzählen würde. »Du hast mir nie mehr etwas erzählt, seit du ein kleiner Junge warst«, hast du geschrieben.
Wenn du nur wüsstest, wie wenig ich dir selbst damals erzählt habe. Du wusstest fast gar nichts von mir.
Nachdem ich deinen Brief gelesen hatte, begann ich nachzudenken, und mir ging auf, dass ich dir jetzt vieles erzählen kann. Ich muss es dir erzählen. Es wird mir gut tun, endlich einige Geständnisse abzulegen. Viel zu lange habe ich meine Geheimnisse für mich behalten.
Schließlich kannst du jetzt nichts mehr dagegen unternehmen.
Seit mir dein Brief in die Hände gefallen ist, habe ich viel Zeit damit verbracht, einfach nur dazusitzen, mich zu erinnern und mir Notizen zu machen. Es kommt mir so vor, als hätte ich eine Geschichte zu erzählen.
Also fange ich an.
Als Erstes muss ich dir sagen, dass ich schon sehr früh gelernt habe, wie man lügt. Es mag noch andere Lügen gegeben haben, aber die erste, an die ich mich erinnern kann, ist die Lüge über den Pier. Ich ging dorthin, auch wenn ich behauptete, es nicht zu tun, und das nicht nur einmal. Ich ging sehr oft hin. Ich sparte Geld oder fand es im Rinnstein. Dauernd schaute ich in den Rinnstein, nur für den Fall. Manchmal, wenn es keine andere Möglichkeit gab, stahl ich Geld; eine Brieftasche, einen Geldbeutel, eine Handtasche – für gewöhnlich lagen sie einfach herum. Dafür schäme ich mich heute noch. Es gibt kaum etwas Verachtenswerteres, als Geld zu stehlen.
Aber, verstehst du, ich musste immer wieder dorthin, um die Hinrichtung zu sehen. Ich konnte mich nicht lange fern halten. Wenn ich sie gesehen hatte, war ich ein paar Tage lang befriedigt, aber dann wurde der Drang, sie sehen zu müssen, wieder stärker, wie ein ständiger Juckreiz.
Du erinnerst dich doch an den Guckkasten, oder? Die Münze wurde in den Schlitz gesteckt und fiel nach unten, bis sie auf die verborgene Klappe prallte, die alles in Bewegung setzte. Zuerst ging das Licht aus. Dann kamen drei kleine Figuren mit ruckhaften Bewegungen in die Hinrichtungskammer: der Pfarrer mit seinem Chorhemd und der Bibel, der Henker und, zwischen ihnen, der Verurteilte. Sie blieben stehen. Die Bibel des Pfarrers ruckte hoch, sein Kopf nickte, danach fiel die Schlinge herunter, und der Henker trat mit einem Ruck vor, hob die Arme, nahm die Schlinge und legte sie dem Verurteilten um den Hals. Dann öffnete sich unter dessen Füßen die Falltür, und er fiel und baumelte dort für ein paar Sekunden, bevor das Licht wieder ausging und alles vorbei war.
Ich habe keine Ahnung, wie oft ich mir das angesehen habe, aber wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen, weil ich jetzt vorhabe, dir alles zu erzählen.
Erst als der Guckkasten abmontiert wurde, hörte es auf. Eines Tages ging ich zum Pier, und der Kasten war nicht mehr da. Ich möchte dir erklären, wie ich mich gefühlt habe. Wütend – ja, ich war sicherlich wütend. Aber ich spürte auch eine Art verzweifelter Enttäuschung, die lange Zeit in mir brodelte. Ich wusste nicht, wie ich sie loswerden sollte.
Ich habe all die Jahre gebraucht, um das herauszufinden.

Kommt es dir nicht seltsam vor, dass mir seitdem Geld unwichtig ist, mir über die bloßen Notwendigkeiten hinaus nichts bedeutet? Ich verdiene ziemlich viel, aber es ist mir egal. Das meiste gebe ich weg. Vielleicht hast du die ganze Zeit gewusst, dass ich ungehorsam war und zum Pier ging, denn du hast mal gesagt: »Ich weiß alles.« Das machte mich wütend. Ich brauchte Geheimnisse, Dinge, die nur mir gehörten und niemals dir.
Aber jetzt will ich mit dir reden. Ich möchte, dass du Dinge erfährst, und wenn ich immer noch Geheimnisse habe – was der Fall ist –, möchte ich sie mit dir teilen. Und jetzt kann ich entscheiden, was ich dir erzähle und wie viel und wann. Jetzt bin ich derjenige, der entscheidet.

1
    E in Dienstagmorgen im Dezember. Halb sieben. Immer noch dunkel. Neblig. So war es
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