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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe
Autoren: Ronaldo Wrobel
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herauf. Ich hatte nie verstanden, warum auf jüdische Gräber Steine gelegt wurden.
    »Wir sind da.«
    Ich parkte in der Nähe des Eingangs. Gähnend richtete Max sich auf und wollte aussteigen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
    »Warten Sie, ich bin gleich wieder da.«
    Ich lief etwa zehn Meter und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen. Es war niemand zu sehen.
    Ich blieb vor einem Eisentor mit einem verrosteten Davidstern stehen. Es war verschlossen und mit einer Kette umwickelt. Es gab niemanden, den man hätte rufen können, keine Klingel, nichts. Ich schnalzte mit der Zunge. Und jetzt? Waren wir umsonst einmal quer durch die Stadt gefahren? Da fiel mir plötzlich etwas auf. Der Anblick war erschütternd.
    Die Grabsteine waren völlig verdreckt, einige hatten Risse. Alles war zugewachsen, Ratten liefen zwischen den Gräbern durch das dichte Gestrüpp. An einer Stelle wuchs ein Strauch aus dem Marmor, darauf saßen Vögel, die die hebräischen Symbole und Inschriften besudelten. Ganz links stand ein verfallenes Haus. Weiter hinten warf eine Weide ihrenSchatten über einen Haufen Schutt. Plötzlich zerriss ein Knall die Stille und scheuchte eine Schar Aasgeier auf. Nirgends ein Wächter oder auch nur irgendein Anzeichen, dass sich jemand kümmerte, alles verkam. Ich fragte mich, wie das sein konnte. Es gab noch andere Friedhöfe in der Umgebung – tatsächlich belegten die Polackinnen nur einen Teil eines ganzen Friedhofskomplexes –, vielleicht konnte mir dort jemand helfen. Aber die Aussicht auf Erfolg war gering, und der verrostete Davidstern kündete bereits von dem Erstaunen, das ich auslösen würde. Offenbar hatte diesen Ort seit Jahrzehnten niemand mehr freiwillig betreten. Darüber hinaus stellte sich die Frage, warum ich Max dieses deprimierende Bild zumuten sollte. Es würde ihn nur unnötig traurig stimmen.
    Möge Fany uns verzeihen, aber ich hielt es für besser, ihm das zu ersparen. Sollte er seinen Stein und seine Sehnsucht für sich behalten. Die Hitze war kaum auszuhalten, und ich wollte schleunigst weg. Aber nicht, ohne mir vorher auszumalen, wie es dort früher einmal ausgesehen hatte, die sauberen Alleen, die polierten Grabsteine, die Rituale, die die Polackinnen abhielten, um sich gegenseitig zu trösten, sich zu ehren und zu behaupten. Ich stellte mir ihre Picknicks vor, die Tränen, den Schweiß, den Glauben im Herzen, wie sie trotz allen Kummers stets versuchten, ihr Selbstwertgefühl zu erhalten. Ich stellte mir die Empörung ihrer Landsleute vor, als sie sahen, wie diese »liederlichen Frauenzimmer« sich ihrer Symbole undihres Glaubens bedienten und auch noch behaupteten, sie hätten dieselben Wurzeln wie sie.
    Ich verstand das nicht. Hatte denn an der Praça Onze niemand auch nur einen Funken Mitgefühl für diese Frauen? Konnte denn niemand über seinen Tellerrand blicken und erkennen, dass das Schicksal ein führerloses Schiff ist und uns nichts anderes übrigbleibt, als das Deck zu fegen? Kam denn niemand dort auf die Idee, dass die Grenzen zwischen Gut und Böse fließend sind und das eine schon oft im Namen des anderen begangen wurde? Vielleicht dachten viele gar nicht darüber nach, weil es einfacher war, sich an Traditionen zu klammern als an Werte, weil es einfacher war, eine Kerze anzuzünden, als sich von ihrem Licht inspirieren zu lassen.
    Ja, ich war aufgebracht. Obwohl ich versuchte, die Menschen der Praça Onze vor ihrem Hintergrund zu verstehen, setzte der Anblick dieses Friedhofs jedweden Kontext außer Kraft und zeigte deutlich, dass dieses Unrecht keine Frage der Zeit war. Ob gestern, heute oder morgen, es wird immer Sündenböcke geben, es wird Säuberungen geben und Leute, die Hass predigen, weil sie, aus Mangel an etwas Gutem und Wahrhaftigem, das sie mit anderen teilen könnten, sich damit trösten, die Menschen und Dinge zu verachten, die sie nicht verstanden haben oder gar nicht verstehen wollten.
    Ich begriff endlich, wie sehr Mensch und Tier sich ähneln, wenn es darum geht, ihr Revier zu verteidigen. Bei den Menschen ist es in erster Linie ideellesGelände, auf dem sie ihre Gewissheiten kultivieren, von wo aus sie über jeden schimpfen, der sie das Unbekannte erahnen lässt und sie auf die Idee bringt, der Gipfel ihres Wissens, der Höhepunkt ihrer Erkenntnisse könnte nicht mehr sein als eine kleine Erhebung in einem tiefen Tal, umgeben von den wirklich hohen Bergen.
    Der Friedhof von Inhaúma löste etwas in mir aus. Statt weiter darüber zu
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